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Chemnitz: Mitsprache für die jugendliche Minderheit

Nominiert für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie: Das Jugendforum Chemnitz

Von Simone Rafael

Gute Arbeit gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus hat viele Gesichter – wir stellen Ihnen 15 ausgewählte Projekte vor, die für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie nominiert sind. Projekt VI: Chemnitz überaltert und schrumpft. Das Jugendforum Chemnitz sucht Wege, um klar zu machen: Wir sind aber noch da. Und wir wollen mitreden.

Auf dem Sehenswürdigkeiten-Schild an der Autobahn wirbt Chemnitz mit der Selbstcharakterisierung: „Stadt der Moderne“. Vermitteln kann Chemnitz die Botschaft nicht: Das den Menschen kleinmachende Imponiergehabe des sozialistischen Repräsentierbaus und der überdimensionierten Paradestraßen der siebziger DDR-Jahre prägt das Stadtbild bis heute. In den umliegenden Stadtteilen stehen ganze Straßenzüge leer. Chemnitz schrumpft. Seit der Wende verlor die Stadt über 20 Prozent ihrer Einwohner. Über ein Drittel seiner heutigen 245.000 Bewohner sind über 60 Jahre alt.


Sieht nicht einladend aus, aber hier werden Ideen gemacht
Die 19 Menschen, die sich an diesem Donnerstagabend in den Räumen des Netzwerks für Kultur- und Jugendarbeit e.V. treffen, gehören in mehrfacher Hinsicht einer Minderheit an: Sie sind jung, zwischen 16 und 24 Jahren alt. Sie sind – im Gegensatz zu vielen ihrer Altersgenossen – noch in Chemnitz. Und sie interessieren sich für Mitbestimmung und Demokratie, weil sie glauben, dass sie auf diesem Weg für ein besseres Leben für die Chemnitzer Jugendlichen kämpfen können. Deshalb haben sie sich – nach Jahren mühevoller Planungsarbeit – ihr eigenes Gremium geschaffen, dass nun der Welt da draußen zeigen, soll wie Chemnitz wieder attraktiver werden könnte: Das Jugendforum Chemnitz.


Blick in die Runde
Angefangen hat alles 2004 mit eine Modellprojekt der Aktion „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Erstmals sollte das Konzept einer antirassistische Agenda in Bremen und eben Chemnitz auf eine ganze Stadt angewandt werden. Wenn sich 70 Prozent des Stadtrats auf die Agenda hätte einigen können, die die Schülerinnen und Schüler erarbeitet hatten, hätte sich Chemnitz „Stadt ohne Rassismus“ nennen können. Die nötigen Unterschriften kamen nicht zustande. Zurück blieben junge Leute, die trotzdem das erste Mal begriffen hatten, wie demokratische Beteiligung funktionieren könnte und die dieses Wissen nicht aufgeben wollten. Die 16-jährige Anna sagt es so: „Als das Projekt auslief, haben wir unsere Idee eines Jugendparlamentes einfach unabhängig weiterentwickelt.“ Die Jugendlichen haben Glück: Ihre Stadt ist nicht uninteressiert. Die Kinderbeauftragte unterstützt die jungen Demokratiefreunde und –freundinnen, auch die Bürgermeisterin hat ein offenes Ohr. Auf ein Jugendparlament, dass echte Mitbestimmungsrechte hätte, möchte sich die Stadt zwar nicht einlassen. Aber einem Jugendforum, dessen Mitglieder mit beratender Funktion in den Ausschüssen des Stadtrates sitzen dürfen, darauf können sich alle Parteien mit Ausnahme der dann überstimmten Republikaner einigen. Formell wurde das Jugendforum im September 2007 gegründet. Jetzt können die Jugendlichen loslegen.


In guter Athmosphäre fliegen die Gedanken.

Denn tatsächlich sind viele der bunt gemischten Jungen und Mädchen des Jugendforums besonders an den Formen politischer Teilhabe interessiert. Egal ob sie im lustigen Ringelpulli, im szenigen Sternchenshirt, im Nadelstreifensakko oder mit undefiniertfarbigen Allerwelts-Sweatshirt zur heutigen Versammlung gekommen sind, die Realschüler, Gymnasiasten und Studenten eint der Wunsch, Einfluss zu nehmen auf Entscheidungsprozesse. Sie selbst benennen ihre Motivation: „Weil es Spaß macht und totalen Sinn“, „Ich möchte in politische Arbeit hineinschauen“, „Ich möchte der herrschenden Lethargie etwas entgegensetzen“, „Wir wollen den Erwachsenen sagen: Wir sind noch da!“
Es liegt einiges im Argen in Chemnitz, in den Augen der Mädchen und Jungen des Jugendforums. Attraktive Jugendclubs gibt es nicht. Gute Konzerte gehen in der Regel in die benachbarten und besser aufgestellten Städte Dresden und Leipzig. Selbst die Innenstadtfeste, die den Jugendlichen gefallen haben, wurden kurzerhand verboten, weil Anwohner sich über eine zu große Lautstärke beschwert hatten. Zumindest dieses Verbot ist aber inzwischen wieder aufgehoben.
Und dann sind da noch die Nazis. „Extremst viele“ gibt es in der Stadt, erzählt ein 21-Jähriger, „beim Fußball brüllen sie: ‚Juden Dynamo!’ oder ‚Macht Euch fort, Ihr Juden!’! „In manchen Straßenzügen“, ergänzt sein Sitznachbar, „kommen Dir nur noch Jugendliche in Thor Steinar-Klamotten entgegen, das ist echt erschreckend.“ Auch mit rechtsextremer Gewalt haben schon viele Erfahrungen gemacht, wurden mit Steinen beworfen oder kennen Freunde, die Schläge kassierten, nur weil sie etwas längere Haare tragen oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Die meisten Klassenkameraden reagieren auf die Situation, in dem sie weggehen – oder gar nicht. „Wenn ich Kommilitonen erzähle, was wir im Jugendforum machen, hören die gar nicht zu oder winken ab, obwohl die selbst gar nichts über Demokratie wissen“, erzählt eine Studentin.
Dabei macht das Jugendforums Chemnitz eine ganze Menge. Auf der einen Seite erkunden seine Mitglieder die Stimmung ihrer Stadt: Befragen Chemnitzer über Handzettel, was ihnen ge- und missfällt an ihrer Stadt, organisieren eine Kinderkonferenz, um Grundschüler über ihre Kinderrechte aufzuklären und ihre Wünsche zu erfahren, entwerfen eine Zukunftswerkstatt, die noch mehr Menschen Mitsprache-Möglichkeiten geben will. Und auch praktisch werden erste Schritte unternommen: Jugendforumsmitglieder haben Kontakt zu den Verkehrsbetrieben aufgenommen, um über eine Erweiterung der Nachtbuslinien zu verhandeln. Andere konferieren mit dem Grünflächenamt, damit dieses die Ideen der Jugendlichen zu Spiel- und Sportplätzen einbezieht, wenn neue Flächen gestaltet werden.

Längerfristig wünschen sich die Mädchen und Jungen des Jugendforums eine Verbesserung der Freizeitmöglichkeiten, um ihre Stadt attraktiver zu machen. Sie wünschen sich die Möglichkeit, Projekte gegen Rechtsextremismus anzustoßen. Sie möchten an die örtlichen Schulen gehen, um bei Gleichaltrigen für mehr Demokratiebegeisterung zu werben. Oder, wie Anna es formuliert: „Wenn in einem Jahr e ine Handvoll Jugendliche sagt, mein Wunsch-Projekt ist passiert und es hat Spaß gemacht, das hat voll gefetzt, das wäre übelst schön.“ Um die Chancen auf eine Umsetzung zu verbessern, hat sich das Jugendforum Chemnitz für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie beworben, der am 9. November gemeinsam von der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank, der Stiftung Frauenkirche Dresden, der Freudenberg Stiftung und der Amadeu Antonio Stiftung vergeben wird. Hartnäckiges Engagement und frische Ideen, wie andere Jugendliche für Demokratie zu begeistern sind – das wäre fürwahr einen solchen Preis wehrt!
Mehr im Internet:
Sächsischer Förderpreis für Demokratie:
www.demokratiepreis-sachsen.de
Jugendforum Chemnitz:
www.jugendforum-chemnitz.de

Mehr auf mut-gegen-rechte-gewalt.de:

80 x Mut in Sachsen

Nominiert für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie 2007:

  1) Aktion Zivilcourage Pirna
  2) arche noVa e.V., Dresden
  3) Bürgerbündnis für Menschenwürde, Mittweida
  4) Buntes Leben, Freiberg
  5) Hatikva e.V., Dresden
  6) Jugendforum Chemnitz
  7) Gruppe KLARA, Dresden
  8) Kreativhaus, Dresden
  9)  Landesjugendpfarramt Sachsen, Leipzig 
10)  Netzwerk für Demokratische Kultur, Wurzen
11) Oberlausitz - Neue Heimat e.V., Löbau
12) Schulmuseum, Leipzig
13) Sprungbrett e.V., Riesa
14) Stadtverwaltung Glauchau
15) Treibhaus e.V., Döbeln

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Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Jugendforums Chemnitz