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»Wir sind die Zukunft! Wir bleiben hier!«

Minderjährige Geflüchtete mit und ohne Angehörige kommen aus Kriegsgebieten oder Diktaturen, sind verfolgt oder misshandelt worden, traumatisiert und müssen sich in einem fremden Land, in fremder Sprache, mit unbekannten Regeln und Gesetzen zurechtfinden – oder besser gesagt zu ihrem Recht finden. Denn obwohl die UN-Kinderrechtskonvention seit 2010 besagt, dass alle Kinder die hier leben – also auch diejenigen die auf der Flucht sind – faktisch gleichgestellt werden, machen minderjährige Geflüchtete eine andere Erfahrung.

Von Judith Rahner

Offiziell gibt es sie gar nicht. Aatifa Debessai hat noch nie in ihrem Leben einen Pass besessen. Sie ist vor fünf Jahren als 14-jährige allein aus Eritrea nach Deutschland geflüchtet. Man kann nur erahnen was sie dabei erlebt haben muss, denn sie spricht nicht gern darüber. Hier hat sie ein neues Zuhause und neue Freund/innen gefunden. Nun haben anonyme Sachbearbeiter darüber entschieden, dass Aatifa nicht länger bleiben darf. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass sie in ihrem Herkunftsland keine Zukunft und sogar ihr Leben bedroht sieht. Sie wird kämpfen müssen, um bleiben zu können. Und sie ist dabei nicht allein. In Deutschland leben gegenwärtig etwa 28.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die akut von Abschiebung bedroht sind. Etwa jedes dritte Kind ist ohne Familienangehörige hier.

»Jugendliche Ohne Grenzen«

So verschieden ihre Herkunft und ihre Schicksale, so ähnlich sind ihre gegenwärtigen Erfahrungen. Sie alle fühlen sich in Deutschland zu Hause, hier leben ihre Freund/innen, hier sehen sie ihre Zukunft und sie alle werden um ihre neue Heimat kämpfen müssen. Unterstützung bekommen sie dabei von »Jugendliche Ohne Grenzen« (J.O.G.), einem bundesweiten Zusammenschluss von jugendlichen Geflüchteten, die sich seit mehr als acht Jahren für Kinder- und Bleiberechte engagieren. Die Selbstinitiative wurde von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegründet, die aus unterschiedlichen Herkunftsländern kommen und teilweise seit mehreren Jahren in Deutschland leben, aber hier oftmals nur geduldet sind. Ihnen ist wichtig, dass sie als Betroffene selbst von ihren Problemen erzählen können und nicht andere für sich und über sich sprechen lassen. Mit unterschiedlichen Aktionen machen sie selbstbestimmt und fernab von Betroffenen-Politik auf ihre Lebenssituation aufmerksam und setzen sich für Gleichberechtigung, Chancengerechtigkeit und gegen Rassismus und andere Formen von Diskriminierung ein. Was sagt das über Deutschland aus, wenn sich Jugendliche politisch engagieren und sich öffentlich Gehör verschaffen müssen, um ihre eigene Gleichstellung zu fordern? Jugendliche, die nicht einmal wissen, ob sie in dem Land bleiben dürfen, für welches sie sich sozial, gesellschaftlich und politisch einsetzen?

Kinderrechte, die in Deutschland nicht für alle Kinder gelten

Offiziell gibt es das gar nicht: Kinderrechte, die in Deutschland nicht für alle Kinder gelten. Deutschland hat zwar mehr als 20 Jahre gebraucht, um die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ohne Vorbehalte anzunehmen. Aber seit 2010 sind damit alle Kinder die hier leben – auch diejenigen die auf der Flucht sind – faktisch gleichgestellt worden. Doch rechtliche Konsequenzen zog die Bundesregierung nicht. Und so orientiert sich der staatliche Umgang mit geflüchteten Jugendlichen noch immer nicht vorrangig am Kindeswohl, ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit und auch nicht am Grundsatz bestmöglicher Unterstützung zu ihrer Förderung und Entfaltung, sondern wird maßgeblich über das Ausländer- und Asylrecht bestimmt. Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bedeutet dies gegenwärtig einen jahrelang unsicheren Aufenthaltstatus, mangelhafte Gesundheitsversorgung, einen schlechteren Zugang zu Bildung und sogar Familientrennungen. Zudem wird noch immer ein zentrales Kinderrecht vorenthalten: In asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren werden 16- und 17-Jährige wie Erwachsene behandelt. Sie können damit in Sammellagern oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht und vom Bildungssystem ausgeschlossen werden. Schlimmstenfalls können sie sogar in Abschiebungshaft genommen werden. Was das bedeuten kann, konnte etwa in der »Süddeutschen Zeitung« nachgelesen werden, die darüber berichtete, dass in einer bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung minderjährige Flüchtende in einen Hungerstreik getreten sind, weil sie unter katastrophalen Umständen zusammengepfercht wurden und dringend in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht werden müssten.

»Abschiebeminister des Jahres«

Um auf diesen zweifelhaften und rechtswidrigen Umgang mit jungen Menschen in Deutschland aufmerksam zu machen, organisiert »Jugendliche ohne Grenzen« bundesweite Aktionen. Sie richten zahlreiche lokale Veranstaltungen aus, um Anwohner/innen zu sensibilisieren, gehen in Schulen und Universitäten, um Gleichaltrige aufzuklären und beraten Menschen in ähnlichen Situationen, damit diese ihre Rechte kennenlernen und durchsetzen können. »Jugendliche ohne Grenzen« tagt zudem jährlich parallel zur Innenministerkonferenz. Denn die dort verabschiedeten Gesetze, Erlasse und Verordnungen haben ganz konkrete Auswirkungen und sind entscheidend für die Zukunft der jungen Menschen. Dabei wählen sie den »Abschiebeminister des Jahres« und zeichnen zugleich mit einem Preis Initiativen aus, die sich tagtäglich in Deutschland für geduldete junge Menschen einsetzen. Die kritische Begleitung der Konferenzen hatte bereits große Erfolge. Auf einer Pressekonferenz berichtete die 21-jährige Nurjana Ismailova, Landeskoordinatorin von J.O.G. in Niedersachsen, die seit zehn Jahren in Deutschland mit einer Duldung lebt, dass »Jugendliche ohne Grenzen« zwei neue Bleiberechtsregelungen mit auf den Weg bringen konnte. Nurjana war durch ihr Engagement an deren Durchsetzung maßgeblich beteiligt. Das hat immerhin 2.000 Jugendlichen einen sicheren Aufenthaltstitel gebracht. Nurjana selbst wird allerdings nicht davon profitieren. Sie erfüllt zwar alle Kriterien, ist aber dennoch von Abschiebung bedroht, weil sie für den willkürlich gesetzten Stichtag der Regelung ganze sieben Tage zu alt ist.

Die Leidtragenden sind aber vor allem geflüchtete Jugendliche

Dennoch wird sie sich weiter mit ihren Mitstreiter/innen für die Durchsetzung der Kinderrechte in Deutschland einsetzen. Es gibt hierzulande keine juristischen Instanzen, die Sanktionen aussprechen oder die Wahrung der Kinderrechte verbindlich einfordern – auch das gilt für alle Kinder und Jugendliche in Deutschland. Die Leidtragenden sind aber vor allem geflüchtete Jugendliche. Sie kommen aus Kriegsgebieten oder Diktaturen, sind verfolgt oder misshandelt worden, traumatisiert und müssen sich in einem fremden Land, in fremder Sprache, mit unbekannten Regeln und Gesetzen zurechtfinden – oder besser gesagt zu ihrem Recht finden. Dabei könnte alles so einfach sein. Findet zumindest Rojin von J.O.G. in Baden-Württemberg. In dem Magazin »xclusiv«, beschreibt sie ihre ganz persönliche Vorstellungen von einem humanen Pass: »Herkunft: Erde, Nationalität: irdisch, Geschlecht: Mensch. Adresse: Da wo ich gerade bin.« Eine schöne Vision. Aber bis es soweit ist, werden sich junge Menschen weiterhin für Bleiberecht, Bildungsgerechtigkeit, Rechtsbeistand im Asylverfahren, Anerkennung kinderspezifischer Fluchtgründe oder die Erleichterung von Familienzusammenführungen einsetzen müssen. Auch wenn es das laut UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland offiziell gar nicht mehr geben darf.

Foto: NullProzent, (CC BY 2.0)

Der Artikel ist der Broschüre "Refugees welcome - Gemeinsam Willkommenskultur gestalten" entnommen und wird Ende Januar erscheinen. Diese Broschüre ist im Projekt »Region in Aktion. Kommunikation im ländlichen Raum« der Amadeu Antonio Stiftung entstanden. Region in Aktion wurde durch das Bundesministerium des Innern im Rahmen des Bundesprogramms  Zusammenhalt durch Teilhabe und durch die Freudenberg Stiftung, Weinheim gefördert.

Keine Gleichberechtigung für geflüchtete Minderjährige. Im Juli 2013 bringen Anwohner ein Verbotsschild an, dass Kinder aus dem nahen Flüchtlingswohnheim auf einem Reinickendorfer Spielplatz nicht willkommen sind. Foto: © NullProzent