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»Asylsuchende werden als rechtlose, als illegale Menschen betrachtet«

Prof. Dr. Andreas Zick ist Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und  Gewaltforschung der  Universität Bielefeld.  Der Forscher arbeitet  unter anderem seit  2002 an der Langzeitstudie zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit. Im  Gespräch mit Laura  Piotrowski erläutert er die gesellschaftliche  Grundlage und die sozialpsychologischen Dynamiken der aktuellen Feindschaft gegenüber geflüchteten Menschen.

Wenn im Folgenden von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) die Rede ist, meint das die Abwertung von Menschen aufgrund der Zuordnung zu einer  bestimmten Gruppe. Ein Phänomen, das nicht nur in  rechten Kreisen zu verorten ist, sondern sich durch die  gesamte Gesellschaft zieht. Dies umfasst die Bereiche  Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus, Homophobie, Sexismus, Feindlichkeit gegenüber Behinderten, wohnungslosen Menschen, Asylsuchenden und Arbeitslosen.

Wie weit verbreitet ist menschenverachtendes Gedankengut im Alltag?
Seit 2002 messen wir in der Studie zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die Einstellungen in  Deutschland. Dabei erheben wir repräsentativ und können sagen: Das Ausmaß von menschenverachtendem  Gedankengut ist quer durch alle Bevölkerungsgruppen  verteilt, egal ob alt oder jung, arm oder reich. Im Zeitverlauf sind manche Einstellungen zurückgegangen,  wie Sexismus und Homophobie. Aber wir haben einen  deutlichen Anstieg von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit oder der Abwertung von Langzeitarbeitslosen zu verzeichnen. Besonders deutlich zeigt  sich das bei den Befragten mit mittlerem bis höherem  Einkommen, hier ist die Zustimmung zu Aussagen wie  »Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in  Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat  zurückschicken« enorm gestiegen. Seit der Finanzkrise ist  Menschenverachtung fest in der Mitte der Gesellschaft  verankert. Die soziale Entsicherung ist eine wesentliche  Grundlage für Menschenfeindlichkeit. Als neue Elemente prüften wir im Jahr 2011 die Abwertung von Asylsuchenden sowie von Sinti und Roma.  Beide Themen geraten durch die derzeitige politische  Entwicklung in Nordafrika und die EU-Osterweiterung  in den Fokus. Aktuell ist eine stärkere Zuwanderung aus  diesen Gebieten zu verzeichnen. In der deutschen Bevölkerung schlägt sich das sehr kritisch nieder. Hier stimmt  fast die Hälfte der Menschen der Aussage zu »Die meisten  Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrer Heimat  verfolgt zu werden.« Ebenso denkt fast die Hälfte der  Menschen »Sinti und Roma neigen zur Kriminalität.«

Aus welchen Gründen steigt die rassistische Ablehnung, von der ja die Ablehnung Asylsuchender  ein Element ist?
Wir müssen uns eher fragen, warum etwas nicht ansteigt.  In Bezug auf Sexismus und Homophobie streben alle gesellschaftlichen Ebenen Diskriminierungsschutz an. Es  gibt langjährige Programme und eine verstärkte Sensibilisierung. Hier greifen gesellschaftliche Schutzmechanismen. Dahingegen zeigt sich ein Anstieg der Feindlichkeit gegenüber Minderheiten, wie Behinderten, wohnungslosen  Menschen, Asylsuchenden oder eben Sinti und Roma.  Diese Gruppen sind gesellschaftlich weniger geschützt  und in der Meinung Vieler auch weniger wert. Allein  ein Drittel der Bevölkerung beurteilt Menschen nach ihrem ökonomischen Mehrwert. Und auch hier zeigt sich  durch die Wirtschaftskrise ein Anstieg. Menschen reagieren individuell auf Krisenprozesse, machen persönliche  Desintegrationserfahrungen, es kommt zu sozialer Entsicherung. Das ist nach jeder Wirtschaftskrise so. Sobald  es wieder etwas zu verteilen gibt, steigt die Angst, selbst  nichts zu haben oder seinen gesellschaftlichen Status zu  verlieren. Zum Beispiel in der bürgerlichen Mitte kommt  es zu einer Abwertung derer, die an den Ressourcen Teil  haben wollen, wie Bildungsaufsteiger mit Migrationshintergrund. Neben den Desintegrationserfahrungen  erleben viele auch eine Orientierungslosigkeit, die sie  nach Autorität verlangen lässt. Im autoritären Denken  geschieht dann eine Abwertung von Abweichlern, von  Personen, die anders als die gesellschaftliche Norm sind. 

Wie sind nun aber die Ausschreitungen und wochenlangen Proteste gegen die Aufnahme von  Flüchtlingen  einzu ordnen?
Hier wiederholt sich die Flüchtlingsdebatte aus den  1990er Jahren. Es gibt massive Vorurteile gegen angebliche Wirtschaftsflüchtlinge. Die negativsten Einstellungen kommen aus den höchsten Bildungsschichten. Das  ist paradox! Normalerweise tritt bei den hoch Gebildeten  der Effekt ein, dass sie wissen, ob eine Frage auf Rassismus abzielt – und dann sozial erwünscht antworten. Aber  in Bezug auf Asylsuchende und Roma zeigt sich das gar  nicht. Besonders diese beiden Gruppen werden als rechtlos, als illegal betrachtet und sind so in der sozialen Hierarchie auf der untersten Stufe. Wer als rechtlos betrachtet wird, ist auch schutzlos. Das erleichtert Vorurteilsbildung  und auch Angriffe auf diese Menschen. Ein Vorurteil ist  dann besonders hart, wenn es sich selbst legitimiert. Wir  haben hier eine Art Kreislauf: Jemand wird vom Staat  rechtlos gemacht, dadurch ist er schutzlos, die Gesellschaftsmitglieder nehmen ihn als rechtlos wahr und behandeln ihn dann eben auch wie eine illegitime Person.  Außerdem betreffen diese Vorurteile eine ungemein heterogene Gruppe. Das lädt zu starker Verallgemeinerung  ein. Hier fehlen besonders Kontakte und Erfahrungen  mit den Betroffenen. Die meisten Menschen, die Vorurteile gegen Flüchtlinge haben, kennen selbst niemanden  aus dieser Gruppe persönlich. Ein weiteres großes Problem ist die gesonderte Unterbringung von Asylsuchenden. Wenn Menschen an bestimmten Orten konzentriert  werden, wirken sie besonders marginalisiert und sind so  schutzloser, man stimmt dann viel leichter Diskriminierungshandlungen zu. Die Menschenfeindlichkeit gegenüber Flüchtlingen reproduziert so, was staatlicherseits  vorgegeben wird. Und dann greifen auch gesellschaftliche  Schutzmechanismen nicht. 

Wie zeigt sich das konkret, zum Beispiel im sächsischen Schneeberg?
Wenn eine Kommune schlecht auf die Aufnahme von  Flüchtlingen vorbereitet ist, gestaltet sich der Prozess  als unkontrolliert, unklar und ungeschützt. Die Politik  wirkt, als ob sie nicht funktionieren würde, überfordert  wäre. Allgemein wird Flucht immer als eine Belastung,  als ein Problem für unsere Gesellschaft kommuniziert.  Medial und auch politisch vermittelte Bilder von einer  sogenannten »Flüchtlingsflut« oder »Armutseinwanderung« sind von vornherein negativ und erleichtern die  Stereotypenbildung auf der individuellen Ebene. Menschen, die gegen Flüchtlinge eingestellt sind oder einfach,  wie ein größerer Teil der Bevölkerung, dazu noch unentschlossen sind, kann man dann leichter beeinflussen. Sie  fühlen sich von den staatlichen Institutionen allein gelassen und desinformiert, das kann eine gesellschaftliche  Normalisierung der persönlichen Stereotype bewirken.  Dazu fehlt das Vertrauen in die etablierten Institutionen,  das zeigt sich genauso an den Ausrufen in Schneeberg,  wie der Forderung nach einem Bürgerentscheid. In dieser Vertrauenskrise der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat liegt das Radikalisierungspotential. Eine  unzufriedene Masse lässt sich von Meinungsmachern  radikalisieren, rechte Propaganda kann genau hier wirksam werden. Und so kommt es, dass sich mehr als 1.500  Menschen den Nazis anschließen, um in ihrem Ort eine  Demonstration gegen Flüchtlinge zu machen, mit denen  sie eigentlich gar nichts zu tun haben. Bei diesen menschenfeindlichen Einstellungen zeigen  sich dann verschiedene Reaktionen der Institutionen:  Marginalisierung, Separation, Abschiebung oder Assimilation. Betrachtet man die staatliche Seite muss man  sagen: Das Vorurteil steuert das Integrationskonzept und  nicht umgekehrt. Flüchtlinge werden eben am Stadtrand  in einer alten Kaserne untergebracht, wie in Schneeberg.  Sie werden separiert und marginalisiert. Das wiederum  bestärkt die Vorurteile der Bevölkerung, auch wenn sie  bar jeder Grundlage sind. Das zeigt sich derzeit übrigens  in vielen Kommunen, nicht nur in Schneeberg.

Wenn die Analyse diesbezüglich so klar ist, welche Lösungen können Sie vorschlagen?
Wir brauchen eine klare staatliche Linie für die Aufnahme von Flüchtlingen. Asyl ist ein Menschenrecht. Dazu bedarf es einer umfassenden Integrationsarbeit. Es ist enorm  wichtig, auch wenn die Menschen wieder abgeschoben  werden sollten. Aber für die Zeit, in der sie da sind, müssen sie in die Gesellschaft integriert werden. Mit einem  guten Integrationskonzept lassen sich Vorurteile abbauen, dazu gehören Deutschkurse für die Eingewanderten,  damit sie sich verständigen können. Außerdem macht  dezentrale Unterbringung von Asylsuchenden Sinn. Das  zeigt sich nicht nur in Deutschland, auch in einem Land  wie Italien, das sehr viele Flüchtlinge aufnehmen muss.  In einer italienischen Stadt wurden alle Flüchtlinge dezentral untergebracht – als Rechte gegen die Flüchtlinge  demonstrieren wollten, mussten sie vor das Rathaus der  Stadt ziehen. Das Fehlen einer zentralen Flüchtlingsunterkunft zerstörte die Mobilisierung, es gab keinen Kristallationsort mehr für den Protest. Auch in Deutschland  müssen Flüchtlinge rein in die Nachbarschaft, es muss  eine Kommunikation zwischen den Menschen entstehen. Bekanntermaßen lassen sich mit Hilfe von Kontakten Vorurteile abbauen. Und die Desorientierung sollte  auf beiden Seiten abgebaut werden. Die Mitglieder der  Aufnahmegesellschaft brauchen eine feste Orientierung  und gute Informationen, auf Seiten der einwandernden  Flüchtlinge sollte Sozialarbeit die Integration der Menschen begleiten.  Wichtig ist auch die staatliche Seite. Stadträtinnen  und Stadträte sollten ansprechbar für Fragen sein, sich  aktiv beteiligen. Besonders belastete Kommunen sollten  mehr Geld vom Land erhalten, um eine gute Unterbringung und Integration zu gewährleisten. Wir brauchen  auch eine positivere Berichterstattung, besonders der  lokalen Medien. Und durch das gemeinsame Handeln  von kommunaler Verwaltung, kommunaler Politik und Zivilgesellschaft müssen und können Raumergreifungsstrategien der Gegnerinnen und Gegner der Flüchtlingsaufnahme im Vorfeld verhindert werden. 

Das Gespräch führte Laura Piotrowski.

Das Interview ist der Broschüre "Refugees welcome - Gemeinsam Willkommenskultur gestalten" entnommen und wird Ende Januar erscheinen. Diese Broschüre ist im Projekt »Region in Aktion. Kommunikation im ländlichen Raum« der Amadeu Antonio Stiftung entstanden. Region in Aktion wurde durch das Bundesministerium des Innern im Rahmen des Bundesprogramms  Zusammenhalt durch Teilhabe und durch die Freudenberg Stiftung, Weinheim gefördert.

Foto: © ngn/ sr