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Die Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die Akten vernichtet haben, schweigen noch immer. Auch weil der Druck auf sie nicht groß genug war. Das muss sich ändern. Denn die wichtigsten Fragen haben sie noch immer nicht beantwortet.
Von Dirk Laabs
Politische Skandale sind wie Fliegerbomben aus dem zweiten Weltkrieg. Potenziell können sie die Grundfesten erschüttern, aber rechtzeitig erkannt, lassen sie sich noch immer entschärfen. Der Skandal um die geschredderten Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte das Potenzial eines britischen „Blockbusters“, dessen Sprengkraft den Inlandsgeheimdienst BfV hätte hinwegfegen können. Ende Juni 2012 erfuhr der NSU-Ausschuss des Bundestages in Berlin und wenig später die Öffentlichkeit zum ersten Mal das Ungeheuerliche: Diverse Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurden vernichtet, nur Tage nachdem die Terrorgruppe NSU aufgeflogen war. Für einen kurzen Moment ließen sich die Ausmaße, die der Skandal haben könnte, erahnen.
Doch noch an dem Tag, als die Nachricht erstmals bekannt wurde, gab das BfV keine Pressekonferenz, sondern lud zwei handverlesene Reporter zu einem Hintergrundgespräch in Köln ein. Dort erklärte man ihnen: die Akten könne man wohl alle wieder herstellen, alles nicht so schlimm, es ging um überzogene Aufbewahrungsfristen, nicht um eine Vertuschung. Der verantwortliche Beamte, der die Vernichtung veranlasst hatte, hätte intern gesagt, die Akten seien nicht „brisant“ gewesen. Hand aufs Herz.
Die fragwürdige Rolle der Süddeutschen Zeitung
„Hochrangige Sicherheitsexperten“, wiederum die Aussage des Schredderes zitierend, bestätigten das. Die Journalisten schrieben das alles so auf. Der prominent platzierte Artikel in der Süddeutschen Zeitung nahm dem Skandal die Spitze. Der Zünder der Bombe war fürs erste abgeklemmt. Eine diffuse Unsicherheit legte sich über den NSU-Ausschuss und das Thema – vielleicht war ja alles halb so schlimm? Vielleicht ließen sich alle Akten wirklich wieder herstellen? Das BfV hatte geschickt, wie schon so oft, die Idiotenkarte gespielt: alles nur „Pannen“, Fehler und Versehen von inkompetenten Beamten, die sowieso ständig überfordert sind. Zwei Jahre später ist das Unbehagen geblieben. Es sind zwar damals führende Verfassungsschützer im Land zurückgetreten – sie haben sich nur nie inhaltlich geäußert. Doch die Rücktritte beruhigten die Lage weiter, weil immerhin sofort nach einem Skandal Konsequenzen gezogen wurden, ohne dass allerdings die Natur dieses Skandals überhaupt klar war: Wurde vertuscht oder hat man wirklich unabsichtlich geschreddert?
So gab Heinz Fromm, wenige Tage nachdem der Skandal publik wurde, sein Amt auf, nachdem er über ein Jahrzehnt das BfV geleitet hatte. Warum ausgerechnet Akten von sieben rechtsextremistischen V-Männern aus Thüringen vernichtet worden sind, konnte oder wollte auch Fromm nicht erklären. Er trat zurück, weil es überhaupt passiert war, so seine Erklärung. Harte Informationen blieben rar, die erste Aufregung legte sich weiter, das Bundesinnenministerium, noch unter der Führung von Hans-Peter Friedrich, setzte einen Mann aus den eigenen Reihen ein, der den Skandal aufklären sollte – ausgerechnet einen ehemaligen Spitzenbeamten aus dem BfV.
Edathys merkwürdige Erklärung
Er fand bald heraus, dass noch sehr viel mehr Akten vernichtet worden waren, mehrere hundert sogar. Aber auch hier: Fakten wurden so lange wie möglich zurückgehalten, der Untersuchungsbericht des Sonderbeauftragten als geheim eingestuft. Das verantwortliche Innenministerium und das BfV retteten sich in Sommerpause. Obwohl die zentralen Frage – was stand in den Akten, um wen ging es, sind Verbindungen zum NSU, deren Mitgliedern oder Umfeld wirklich auszuschließen, und: wie wollten die Agenten Verbindungen zum NSU – Tage nach deren Enttarnung – überhaupt so schnell ausschließen können? – nicht einmal annähernd beantwortet waren, versandete das Thema im Spätherbst.
Erst im April 2013, noch bevor der NSU-Prozess in München begann, durften endlich zwei Abgeordnete diejenige BfV-Mitarbeiterin als Zeugin vernehmen, die die ersten Akten im Amt zerstört hat. Ihre Aussage macht deutlich, dass sie sich zunächst wehrte, sie wollte die Akten nicht vernichten, doch ein hochrangiger BfV-Mitarbeiter, Arbeitsname Lothar Lingen, bedrängte sie. Lingen tat dann später so, als sei die Vernichtung der Akten ein Versehen gewesen, als aber erneut Dokumente einer der Informanten – Deckname „Tarif“ – auftauchte, ließ er auch die schreddern. Trotzdem sagte Sebastian Edathy bei der Vorstellung des Abschlussberichtes seines NSU-Ausschusses wenig später – und keiner seiner Kollegen und Kolleginnen aus dem Ausschuss widersprach –, dass die Vernichtung eher aus „Dummheit“ passiert sei.
Untätige Staatsanwaltschaft
Erst nach der Vorstellung des Berichts gelang es einem Kollegen und mir, den V-Mann in Schweden zu finden, dessen Akten Lingen besonders gründlich zerstören ließ. Der Mann mit dem Deckname Tarif leugnete uns gegenüber zwar nicht, dass er einst ein militanter Neonazi war, stritt jedoch ab, dass er für das BfV gearbeitet hatte.
Nach unserem Besuch wurde er vom Bundesamt verhört, gebrieft, er sprach dann mit einem Reporter des Spiegel, dem er erzählte, dass er nach dem Untertauchen von einem Unterstützer von Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt gebeten worden sei, den Dreien bei ihrer Flucht zu helfen – Tarif hätte das dem BfV erzählt, die Agenten hätten jedoch abgelehnt, dass er den Dreien hilft. Der Aufschrei der Abgeordneten des Ausschusses, des Bundesinnenministerium, der Beobachter blieb aus – obwohl nun klar war: Tarif wurde gefragt, Mitgliedern des NSU beim Leben im Untergrund zu helfen – und ausgerechnet die Akten aus der Zeit, wo es um diese Fluchthilfe gegangen sein könnte, sind vernichtet worden. Tarif hatte also Kontakt in das direkte Umfeld des NSU, auch nach der Flucht von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Nach dem Spiegel-Artikel hätte eine Staatsanwaltschaft tätig werden und Ermittlungen gegen Lingen aufnehmen müssen. Doch passiert ist nichts.
Was wurde aus Lothar Lingen?
Gegen Lingen lief anfangs lediglich ein Disziplinarverfahren, das mit Abschluss der Ausschussarbeit nicht beendet war. Die Abgeordneten des Bundestages wurden auch danach nicht offiziell informiert, was aus ihm geworden ist. Er hatte in den bekannt gewordenen Vernehmungen die Aussage verweigert, wenn er gefragt wurde, warum er die Akten wirklich hat vernichten lassen. Auch Lingen und der Apparat, der ganz offenbar weiter hinter ihm stand, hatten also erfolgreich auf Zeit gespielt.
Ungeklärt ist weiter, was die Spitze des BfVs wirklich über die Schredderaktionen wusste. Denn auch der Bericht des Ausschusses selbst liest sich völlig anders, als es Edathys Kommentar über die vernichteten Akten vermuten lässt. Aus dem Bericht geht hervor, dass allein 137 Akten aus den Jahren 1993 und 1994, in denen es ausschließlich um die „Forschung und Werbung“ von rechten V-Männern ging, vernichtet wurden –unwiederbringlich. In diesen Jahren begannen sich auch Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt zu radikalisieren, und das BfV hatte damals unter der Führung von Lingen begonnen, so viele V-Männer wie möglich in der rechten Szene zu werben, um an Informationen zu kommen – auch minderjährige Skinheads. Jedes Mittel war recht. Und natürlich kamen die geworbenen Spitzel auch dem NSU nah. Von allen denkbaren Motiven, Dokumente von und über V-Männer aus dieser Zeit zu vernichten, sind „Dummheit“ und „Versehen“ die unwahrscheinlichsten.
Der Bundestag muss handeln!
An diesem Punkt darf daher keine Ruhe gegeben werden, bis es Antworten gibt. Männer wie Lothar Lingen und die anderen, die nach ihm geschreddert oder die Vernichtung gedeckt haben, muss mit allen Mitteln des Rechtsstaats klar gemacht werden, dass nicht nur die Hinterbliebenen der NSU-Opfer ein Recht auf Antworten haben, sondern alle Bürger in dieser Republik. Dieses Recht muss der Bundestag durchsetzen, indem seine Abgeordneten maximalen Druck auf die Exekutive ausüben.
Das Thema muss lästig bleiben, Fragen müssen so lange gestellt werden, bis sie beantwortet sind und dürfen nicht unter den Tisch fallen, wenn ein paar Anstandsmonate vergangen sind und das Interesse erlahmt. Eine Frage bleibt eine Frage bleibt eine Frage, bis sie beantwortet ist. In diesem Fall: Warum haben die Agenten wirklich geschreddert – was musste so dringend vertuscht werden?
Von Dirk Laabs ist gerade das Buch „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU erschienen“, das er gemeinsam mit Stefan Aust im Pantheon-Verlag veröffentlicht hat.
Der Artikel ist zuerst erschienen auf debattiersalon.de.