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"Das Aktenschreddern war Vorsatz und diente der Vertuschung"

Zweieinhalb Jahre nach dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie legen die Hamburger Journalisten Dirk Laabs und Stefan Aust jetzt die präzise Analyse dazu vor: das Mammut-Werk "Heimatschutz" - ein fast 900-seitiges Buch über den "Staat und die Mordserie des NSU". Es ist eine detaillierte Aufarbeitung des rechten Terrors seit der Wiedervereinigung und ein packendes Protokoll eines der größten Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Skandal, der ohne Beteiligung des Bundesamts für Verfassungsschutz wohl so nicht möglich gewesen wäre. stern.de sprach mit dem Buchautor Dirk Laabs.

Wir haben verschiedene Untersuchungsausschüsse erlebt und die Bundeskanzlerin hat vollständige Aufklärung versprochen. Warum jetzt dieses Buch?
In der Debatte um die NSU-Morde hört man oft eine zusammenfassende Einschätzung: Die sogenannten Dienste waren auf dem rechten Auge blind und haben die Gefahr nicht erkannt. Das gilt unserer Ansicht nach auf keinen Fall für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Als kurz nach der Wende in Deutschland Asylbewerberheime brannten und Schlägertrupps wahllos Menschen angriffen und umbrachten, hatten die Beamten im Kölner Bundesamt erwiesenermaßen die Gefahr von rechts erkannt. Immer mit dem Augenmerk, dass daraus rechter Terrorismus werden könnte.

Sie zitieren in Ihrem Buch den damaligen Chef der rechten Terror-Abwehr, Lothar Lingen: Auch er behauptet, dass man seine Abteilung massiv aufgestockt hat, um die Gefahr zu bekämpfen.
Das stimmt auch. Hauptthema waren nicht nur die Angriffe auf Flüchtlingsheime. Dem Amt bereitete Sorge, dass damals Dutzende von deutschen Neonazis in den jugoslawischen Bürgerkrieg gezogen sind. Und als diese ab 1991 zurückkamen, gelernt und gesehen hatten, wie man gegebenenfalls kämpft und tötet, fürchtete man, dass diese 'Söldner', wie man sie nannte, hier systematisch rechten Terror etablieren könnten.

Was passierte danach?
Es wurde gehandelt. Nach der Wende haben die Beamten vom Bundesamt für Verfassungsschutz systematisch in jedem Bundesland führende militante Neonazis als Spitzel angeworben. Eben auch sogenannte V-Männer, die im Zusammenhang mit dem NSU eine große Rolle spielen.

Heißt dies, dass Neonazi-Kader somit in den Staatsdienst gewechselt sind?
Zumindest wurden sie vom Bundesamt für Verfassungsschutz gedeckt. Das werden sie bis heute. Der wichtigste Auftrag der Mitarbeiter des Bundesamt für Verfassungsschutz lautet: Terroranschläge zu verhindern, natürlich schon im Vorfeld. Dabei richten sie sich nach eigenen Regeln. Das heißt: Die Frage, ob man einen Neonazi aus dem Gefängnis heraushalten soll, damit er weiter über die Szene berichten kann, haben diese zentralen Mitarbeiter des Amtes - intern - mit Ja beantworten. Denn um die richtigen Informationen zu bekommen, brauchen sie möglichst verlässliche Zugänge. Und so haben sie die eher intelligenten Leute als Informanten rekrutiert, darunter Neonazi-Kader, die auch andere führen können. Und diese V-Männer wurden von dem Bundesamt gegenüber Behörden wie zum Beispiel der Polizei geschützt, damit sie Karriere in der Szene machen konnten. Um so an die möglich gefährlichen Gruppen heranzukommen.

Ist das nicht, Verzeihung, pervers?
Die Leute in den Diensten würden das sicher anders sehen. Sie machen die Schmutzarbeit, wie jeder Geheimdienst auf der Welt. Ein Präsident eines Landesamtes für Verfassungsschutz sagte vor dem NSU-Ausschuss in Berlin sinngemäß: "Sie haben eine falsche Vorstellung von unser Arbeit. Wir haben es mit Abschaum zu tun." Die Verfassungsschutzämter sammeln zudem nicht nur Nachrichten, sie sind auch operativ tätig. Dafür braucht man Leute mit Ambitionen, sonst kann der Dienst, wenn er nur Mitläufer rekrutiert hat, die gleich wieder aus Szene aussteigen, nach einem Jahr neu anfangen - so die strategische Logik.

Kontrolle also statt Verbote?
Das Bundesamt für Verfassungsschutz wollte offenbar die rechte Szene kontrollieren und nicht zerschlagen. Einer demokratischen Öffentlichkeit ist dieses Vorgehen schwer zu vermitteln. Interessanterweise zitiert das Bundesamt, nachzulesen auf der Website, seinen Präsidenten mit dem Satz: "Wir sind ein Dienstleister der Demokratie". Und eben nicht: Wir sind ein demokratischer Dienstleister. Das ist ein feiner Unterschied.

Wie nah waren die Männer und Frauen vom Verfassungsschutz den NSU-Terroristen?
Das Amt hatte V-Leute in der direkten Umgebung. Unterstützer und Bekannte der NSU-Mitglieder haben als Spitzel verschiedenen Diensten berichtet: Ein V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz zum Beispiel wohnte in Zwickau nur wenige hundert Meter vom letzten Wohnort des Trios entfernt. Und ein Freund dieses V-Manns konnte dem Terror-Trio von seinem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite in die Fenster sehen.

Das kann auch ein Zufall sein. Oder wollen Sie damit sagen, dass vom Steuerzahler bezahlte Neonazis anderen Neonazis dabei zugeschaut haben, wie diese Morde vorbereiteten?
Nein. Das kann ein Zufall sein. Fakt ist, dass wir im Laufe unserer Recherche auf sehr viele Umstände und Aspekte gestoßen sind. Wenn man aber allein den Mord an Michèle Kiesewetter in Heilbronn betrachtet: Da werden so viele Merkwürdigkeiten einfach dadurch erklärt, dass sie Zufälle waren. Darüber könnte man verrückt werden.

Die Polizistin Michèle Kiesewetter war das zehnte bekannte Mordopfer des NSU.
Ja. Die "Bearbeitung" dieses Falls ist an Schlamperei nicht zu überbieten. Ein Beispiel nur: Ein Kollege, der mit Kiesewetter die Schicht hatte, der Grund, warum die junge Frau überhaupt an dem Tattag in Heilbronn eingesetzt war, will sich einfach nicht erinnern, wie und warum genau er die Schicht getauscht hat. Das ist deswegen wichtig, weil - ohne, dass der Grund dafür bislang bekannt ist - Uwe Böhnhardt genau an dem Tag, als der Kollege eben mit Kiesewetter die Schicht tauscht, die Mietdauer des Wohnmobils, in dem er mit Mundlos offenbar wieder unterwegs war, verlängert hat.

Was ist da genau beim Mordfall Kiesewetter passiert?
Das wissen wir auch deswegen nicht, weil die eigenen Kollegen von Kiesewetter eben nicht im vollen Umfang mit den Mordermittlern kooperieren. Umso erstaunlicher, als es um den Tod einer Kollegin geht. Es gibt da viele merkwürdige Aussagen von Kiesewetters Kollegen. Ein Polizist, der nach gemeinsamen Einsätzen mit Kiesewetter befragt wird, antwortet - und das ist protokolliert: "Keine, dass sie so wichtig wären, dass sie für eure teuren Ermittlungen relevant wären. Ein anderer wird auf den Namen einer Zeugin angesprochen und sagt: "Den Namen kriegst Du von mir nicht. Wenn Ihr mich vernehmen wollt, dann kommt noch einmal auf mich zu." Man muss sich fragen: Sind die Polizisten nur enttäuscht über den Verlauf der Ermittlung? Oder sollen sie nicht reden?

Was glauben Sie?
Wir sind Chronisten. Uns geht es darum, zu dokumentieren, wie die Ermittlungen gelaufen sind. Aber: Wir denken den Fall nicht vom Ende her, und entschuldigen mit dem Ende alles. So sinngemäß: Die Täter waren sowieso Neonazis, ist doch egal, ob Polizisten gelogen haben. So geht es nicht. Wir möchten verstehen, wer warum wie in einer bestimmten Situation gehandelt hat. Das Bittere ist: Man will den Fall Kieswetter bis heute nicht öffentlich aufklären, man scheut sich selbst im rot-grün regierten Baden-Württemberg, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Auch dort mauert das Innenministerium. Es macht einen als Beobachter misstrauisch, wenn zu viel Energie ins Verschweigen und Vertuschen gesteckt wird. Das gilt für andere Bundesländer und andere Aspekte genauso: Man mauert flächendeckend.

Der Tod der Polizistin ist bis heute der mysteriöseste Fall in der Mordserie.
Auf jeden Fall einer voller offener Fragen. Neben dem Mord in Kassel, bei dem ein Verfassungsschützer am Tatort anwesend war. Der Fall Kiesewetter ist auch deswegen so interessant, weil das Opfer im Herzland des Thüringer Heimatschutzes aufgewachsen ist, also jener Neonazi-Bewegung, in der sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe radikalisiert haben. Kiesewetters Onkel war in dieser Gegend als Polizist verdeckt im Einsatz - auch gegen Nazis. Und nur wenige Tage nach dem Mord an seiner Nichte stellt er bei einer Vernehmung gegenüber den Mordermittlern eine Verbindung zwischen diesem Mord und den vorausgegangenen Morden mit einer Ceska-Pistole her. Vor allem mit dieser Waffe waren 2000 bis 2006 acht Menschen erschossen worden. Woher wusste er das, warum sagte er das? Seine öffentlichen Erklärungen überzeugen bislang nicht. Weiter erstaunlich: Einer der ersten Beamten am Tatort war ein Kollege, der einst Mitglied im rassistisch geprägten Ku-Klux-Klan war. Dieser Beamte hatte im Klan Kontakt zu einem der wichtigsten V-Männer im Bundesamt für Verfassungsschutz.

Was bedeutet dieser Umstand für Sie?
Auch diese Bekanntschaft kann Zufall sein. Doch der V-Mann, um den es sich dabei handelt - Deckname Corelli - ist ausgerechnet eine der wichtigsten Quellen, die das Kölner Bundesamt in der rechten Szene hatte. Nicht zuletzt weil er Kontakt zu Neonazi-Kadern pflegte, die am Wiederaufbau der NSDAP arbeiten.

Und dieser "Corelli" ist jetzt tot, er wurde vor wenigen Wochen in seiner Wohnung aufgefunden.
Ja. Er soll an einer nicht erkannten diabetischen Erkrankung gestorben sein. Es gibt einige Beobachter der Neonazi-Szene, die über einen politischen Mord spekulieren. So, als sei hier ein Mensch zum Schweigen gebracht worden. Doch der Fall Corelli zeigt unserer Meinung nach bisher eher, dass ein zentraler V-Mann über Jahre, bis zu seinem Ende, alles genau getan hat, wofür er vom Bundesamt für den Verfassungsschutz bezahlt worden war. Das schließt ein, auch gegenüber dem Bundeskriminalamt zu lügen, selbst wenn es um Ermittlungen in einer beispiellosen Mordserie geht. Corelli hat zum Beispiel schlicht geleugnet, dass er Uwe Mundlos kennt, einem der mutmaßlichen NSU-Mörder. Dass er ihn allerdings gekannt hat, geht aus einer Akte des BfV hervor. Corelli hat schon 1995 über Mundlos berichtet. Überhaupt hatte sich das Amt schon sehr früh über Zschäpe, Böhnhardt und eben Mundlos informiert und sich jahrelang mit dem Trio beschäftigt.

Wollen Sie damit sagen, dass die Experten des Verfassungsschutz dem NSU-Trio auf den Spuren war?
Ja, sicher, wir wissen nur nicht, wann und warum man die Spur wirklich verloren hat. Das Bundesamt hat sich zudem schon sehr lange mit NS-Untergrundstrukturen auseinandergesetzt: In der rechtsradikalen Szene war das Konzept einer Untergrund-Bewegung in den früheren 1990ern Jahren bekannt, der "NS-Untergrund" ein feststehender Begriff. Offiziell wird und wurde immer behauptet: es sei undenkbar, dass Neonazis in den Untergrund gehen und Anschläge begehen. Tatsächlich aber sind wir auf eine öffentliche Quelle gestoßen, in dem schon 1990 führende Rechtsextremisten von einem "NS-Untergrund" sprechen, der gebildet werden müsse. Das ist ein Papier aus dem Umfeld des mittlerweile verstorbenen Neonazi-Führer Michael Kühnen. Das kannten sicher auch die Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz.

Das heißt aber noch lange nicht, dass diesen Worten gleich Taten folgen, oder?
Stimmt, richtig. Aber das Bundesamt hat dies durchaus für möglich gehalten und daher bereits kurz nach der Wende eine eigene Abteilung gegründet, die sich nur mit Rechtsterrorismus beschäftigte, die Abteilung II.2.F. Dass es eine solche Abteilung gibt, wurde im NSU-Ausschuss erst an einem der letzten Sitzungstage bekannt. Und ausgerechnet diese Abteilung war seit 1998 für die Verfolgung des sogenannten NSU-Trio zuständig. Man hat die Gefahr also richtig eingeschätzt.

Die drei wurden also gejagt und nicht gefangen?
Genau. Beim Anschlag in der Kölner Keupstraße 2004 wurde das Bild der Täter sogar auf einem Videoband festgehalten. Die Ermittler hatten die Täter auf dem Schirm und trotzdem können sie morden. Nach Köln noch weitere fünf Mal. Obwohl auch hier das Bundesamt sofort aktiv wurde und den richtigen Riecher hatte, einen rechtsradikalen Anschlag vermutete. Denn wenige Stunden nach dem Nagelbombenanschlag in der Keupstrasse versuchte ein hochrangiger Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz, mit einem Kollegen des Landesamt für den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen zu sprechen, die beide mit der Führung von rechtsradikalen V-Männern zu tun hatten. Ohne jemals zu erklären, was so dringend war. Bis heute. Und nun sagt der Mann vom Bundesamt, er sei krank und könne nicht mehr aussagen. Warum all dies passierte - das ist die Frage.

Wollen Sie damit sagen, dass Mitarbeiter des Verfassungsschutzes per se nicht die Wahrheit sagen?
Nein. Aber: Zentrale Mitarbeiter des Bundesamtes haben sich in den bisherigen Untersuchungsausschüssen entweder nicht erinnern können oder erinnern wollen, oder sie haben nur das zugegeben, was bereits bekannt war. Es entsteht der Eindruck, das ist ein Kartell des Schweigens.

Könnte es sein, dass Frau Zschäpe im Münchener NSU-Prozess auch deshalb schweigt, weil sie vielleicht in Diensten des Verfassungsschutzes steht oder stand?
Der NSU-Ausschuss des Bundestages hat dazu umfassend ermittelt und kam zu einer klaren Antwort: Nein. Ein Zeuge hat allerdings ausgesagt, dass das Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen darüber nachgedacht hat, Zschäpe zu werben, dann aber - wegen psychischer Probleme von Zschäpe - davon Abstand genommen hat. Auch der Fall Uwe Böhnhardt wirft bis heute ernste Fragen auf, da es einige Freisprüche in seiner kriminellen Karriere gibt, die seltsam sind. Eines der Ergebnisse der Arbeit an unserem Buch ist daher ein dringender Wunsch. Die Öffentlichkeit und die Hinterbliebenen der NSU-Opfer haben endlich befriedigende Antworten verdient. Und keine Ausflüchte. Diese bekommen wir nur, wenn das Bundesamt schonungslos alle Akten vorlegt. Dass kann nur ein neuer NSU-Untersuchungsausschuss auf Bundesebene durchsetzen - der erste ist mit der zentralen Arbeit nicht fertig geworden. Alle Beteiligten müssen dazu gebracht werden, endlich auszupacken. Ihnen muss klar gemacht werden, dass über ihrem Berufsethos noch ein höherrangiges, demokratisches Interesse steht. Wir dokumentieren in unserem Buch eben auch, welche Akten welcher V-Männer vernichtet wurden und kommen klar zu dem Ergebnis - im Widerspruch zum ehemaligen Vorsitzenden des NSU-Ausschusses Sebastian Edathy: Das war keine 'Dummheit', sondern Vorsatz, also Vertuschung. Nachdem so viele Akten geschreddert worden sind, muss endlich die Wahrheit ans Licht: Warum wurde wirklich geschreddert? Das sind wir den Opfern des rechten Terrors und nicht nur denen schuldig.

Herr Laabs, nach nunmehr zweieinhalb Jahren Arbeit und dem Studium unglaublich vieler Akten...
...wollen Sie jetzt von mir zusammenfassend hören, wie es wirklich war und was ich denke? Nun, ich glaube, ein wichtiger Schlüssel zu einem sorgsam gehüteten Geheimnis liegt im Bundesamt für Verfassungsschutz. Klaus-Dieter Fritzsche, ehemals Vizepräsident, sagte vor dem NSU-Ausschuss einen entlarvenden Satz: "Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren." Übrigens ist dieser Mann jetzt Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt. Wenn man so will: eine konsequente Karriere. Diejenigen, die schweigen, werden belohnt.

Das Interview führte Uli Hauser.

Der Artikel ist zuerst beim Hamburger Magazin stern erschienen.

 
 

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