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Erinnerung als Grundlage des Alltags

Ein Kommentar von Anetta Kahane

Viele Menschen sind der Meinung, dass Erinnern nichts nützt. Aus der Geschichte zu lernen wäre ohnehin eine Illusion, die sich in der Wirklichkeit nicht einlösen lässt.

Vielleicht sind deshalb für das Gedenken nur kleine Zeitfenster vorgesehen, wie im November beispielsweise, wenn sich Pogromnacht und Maueröffnung jähren. Oder Ende Januar, am Holocaustgedenktag, der sich nicht einfach so ergab, sondern mit Bedacht ausgesucht wurde, damit die Welt neben der schlechten Botschaft – es gab wirklich einen Holocaust – auch eine gute empfängt: Auschwitz konnte befreit werden. Diese Anlässe sind ehrenwert, und Rituale werden gebraucht, auch wenn viele darüber schimpfen. Was zu ergänzen wäre, ist, dass und wie Erinnerung auch unseren Alltag bestimmt.

Wenn Erinnerungen verdrängt werden, kriechen sie durch die Knopflöcher und brechen meist dem Unguten Bahn. Aus dem Verdeckten, Verhehlten kann so rasch unverhohlener Hass werden. Werden sie nicht in der untersten Schublade versteckt, können Erinnerungen durchaus dabei helfen, den menschlichen und politischen Alltag zu prägen. Ich wehre mich gegen den Fatalismus, nach dem Menschen keinen Willen haben, sondern ausschließlich Produkt der Umstände sind, in denen sie leben. Gewiss haben viele Dinge einen großen Einfluss auf uns, aber sind wir ihnen deshalb einfach ausgeliefert? Erinnerungen, sowohl die privaten als auch die historischen, sind Orientierungen für das eigene Leben, wenn sie denn gewusst werden und bewusst sind. Niemand muss Objekt bleiben, weder das seiner sozialen noch das seiner politischen Herkunft. Jeder kann Subjekt sein – ehrlich gesagt, sind wir das viel mehr, als es sich jeder eingesteht. Das hat auch mit der ethischen und politischen Bildung zu tun, die auf aktivem Erinnern beruht.

Die Amadeu Antonio Stiftung arbeitet sehr viel mit dem Erinnern. So wurde eine Ausstellung eröffnet, in deren Mittelpunkt rechtsextreme Frauen in der DDR stehen. Sie anzuschauen bedeutet, sich mit Fragen zu konfrontieren, die zwar für die Vergangenheit abgebildet sind, sich aber heute ebenso stellen: Frauen im Rechtsextremismus? Gab es das, gibt es das? Die DDR und Nazis? Die Ohnmacht des autokratischen Staates, damit umzugehen? Protest gegen das Regime oder geistiges Erbe? Überhaupt: Wie ist das Bild dieser DDR heute? Wird es verharmlost, wird es benutzt? Ist es überhaupt relevant? Damit hat sich eine Gruppe Wissenschaftler auseinandergesetzt, gerade auch im Kontext des Missbrauchs von DDR-Geschichte, also deutscher Geschichte, für die Renaissance einer Argumentation, die der des Kalten Krieges mehr ähnelt als der eines lange vereinten Deutschland. Rechtsextremismus kann man nur verstehen, wenn man seine Geschichte kennt.

Das gilt auch für Rechtspopulismus und andere Phänomene der Menschenverachtung. Das Phänomen AfD erklärt sich nicht aus der Flüchtlingsfrage des Jahres 2015. Ebenso verstehen wir nur, was Rassismus ist, wenn auch an die deutsche Kolonialgeschichte erinnert wird. Und wie jetzt mit Rassismus umgegangen wird, dazu ist wiederum der Umgang mit dem NSU ein wichtiger Schlüssel. Kurz: Erinnern ist Teil der Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung an jedem einzelnen Tag. Das ist mühsam, das ist oft auch sehr schmerzvoll, aber es ist die Grundlage jeder Erneuerung im Sinn von Humanität.

Es ist nicht so schwierig, wie es vielleicht scheinen mag, die Dinge immer auch im Kontext des Vergangenen zu sehen. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, ich jedenfalls könnte mich ohne meine Erfahrungen – und nichts anderes sind Erinnerungen auch – keine Minute orientieren in dieser schwierigen Welt. Erinnerungen kann man auswerten und zu Erfahrungen werden lassen. Und Erfahrungen muss man überprüfen mit dem menschlichen Maß, das jedem von uns zur Verfügung steht. Dann wird es leichter, orientiert zu handeln. Wir tun unser Bestes, uns und Ihnen dabei zu helfen.