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Antiziganismus

Der Begriff „Antiziganismus“ geht auf den ‚Tsiganologen‘ Bernhard Streck zurück, der ihn Anfang der 1980er Jahre gebildet hatte – allerdings damals in der Absicht zu zeigen, dass ein solches Phänomen nicht existiere. Seitdem hat sich der Begriff verselbständigt und wird seit Mitte der 1980er als Bezeichnung für den weit verbreiteten Rassismus gegenüber Menschen, die als ‚Zigeuner‘ stigmatisiert werden, verwendet.

Vor- und Nachteile des Begriffs

Meist werden dabei die Konstruktion des Fremdbilds des ‚Zigeuners‘ und die daran anknüpfende Zuschreibung vorrangig negativer Eigenschaften mit dem Begriff bezeichnet. Doch ebenso die konkrete Diskriminierung und Verfolgung von als ‚Zigeuner‘ stigmatisierten Gruppen und Einzelpersonen ist damit gemeint. Dabei ist der Begriff in der wissenschaftlichen Forschung und in der politischen sowie pädagogischen Arbeit immer noch umstritten. Die Einwände sind vielfältig. Die häufigsten sind, der Begriff beanspruche eine zu große Nähe zu Antisemitismus, er verwische die Unterschiede zwischen verschiedenen Roma-Gruppen und er wiederhole die alte Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘.

Der Vorteil einer Verwendung wird unter anderem darin gesehen, dass der Begriff „Antiziganismus“ deutlich macht, dass die Vorurteile auf der Konstruktion des ‚Zigeuner‘-Bildes beruhen, das mit den realen Menschen, die von diesen Vorurteilen und Stereotypen und in der Folge von Diskriminierung und Verfolgung betroffen sind – zumeist Roma und Sinti –, nichts zu tun hat. Außerdem deutet er an, dass dieses Phänomen sehr tief in der Gesellschaft verwurzelt ist und eine lange Tradition aufweist.

Verfolgung

Die Geschichte der Verfolgung von Menschen als ‚Zigeuner‘ lässt sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen. So beschloss der Freiburger Reichstag des Heiligen Römischen Reichs 1498 beispielsweise, alle ‚Zigeuner‘ für vogelfrei zu erklären. Seit dieser Zeit kam es immer wieder zu massiven Verfolgungen und Ausgrenzungen gegenüber als ‚Zigeuner‘ stigmatisierten Gruppen. Seit der Zeit der europäischen Aufklärung wurden die antiziganistischen Vorstellungen immer stärker verwissenschaftlicht und rassifiziert. Dies kann auch als „moderner Antiziganismus“ bezeichnet werden. Der ‚Zigeuner‘ wurde dabei zu einem archaischen Gegenbild des ‚Bürgers‘ – und in einer völkischen Variante des ‚Bauers‘ – stilisiert. Dieses bildete auch eine Grundlage für den nationalsozialistischen Genozid, bei dem nach Schätzungen ca. 500.000 Roma, Sinti und andere als ‚Zigeuner‘ Verfolgte in ganz Europas systematisch ermordet wurden. Die Anerkennung dieses Genozids in der Bundesrepublik Deutschland zog sich bis 1982 hin.

Ausschluss

Auch heute ist „Antiziganismus“ in Europa weit verbreitet. Die verschiedenen Klischees des ‚Zigeuner‘-Konstrukts – das angebliche Betteln und Stehlen, Wahrsagen und Musizieren, das heimatlos Umherziehen, schmutzig, unzivilisiert und integrationsunwillig Sein – finden sich alltäglich in Medien, Politik, Kultur und am Stammtisch wieder. Auch die Situation der Gruppen, die häufig von Antiziganismus betroffen sind, hat sich nicht verbessert: Noch immer müssen viele Roma in vielen europäischen Ländern Ost- und Westeuropas in Slums, Notunterkünften oder eigenen Stadtvierteln leben, werden von Schulbildung, Gesundheitsversorgung, Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgeschlossen und sehen sich antiziganistischen Übergriffen und Diskriminierungen ausgesetzt.

Romantisierende Umdrehung

Antiziganismus findet sich dabei nicht nur bei neonazistischen Gruppierungen, sondern ist in sehr weiten Teilen der europäischen Gesellschaften fest verankert. Häufig findet sich auch eine positive Umdrehung der gleichen Stereotype: Anstatt den vermeintlichen ‚Zigeunern‘ vorzuwerfen, dass sie vaterlandslos seien, wird ihre Freiheitsliebe bewundert, anstatt sie der Arbeitsscheu zu bezichtigen, wird ihre Art lustig in den Tag hinein zu leben gepriesen. Solche positiven Umwertungen der gleichen Stereotype werden Philoziganismus genannt.

Von Markus End