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Rassismus in der DDR: Rezension von Harry Waibels Buch "Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED"

In seinem neu erschienenen Buch „Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR“ zeigt der Historiker, Soziologe und Pädagoge Harry Waibel, dass Rassismus, Neonazismus und Antisemitismus Bestandteile des öffentlichen Lebens der DDR waren, aber von der SED-Regierung konsequent geleugnet und geheim gehalten wurden. Es sind für die DDR über 8600 neonazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewalttaten dokumentiert, bei denen es Tausende von Verletzten und mindestens zehn Tote gegeben hat. Waibel hatte Einsicht in 1500 unveröffentlichte Dokumente aus den Archiven des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, die diese Angriffe belegen. Er geht in seinem Buch den ideologischen und historischen Ursachen für den Rassismus und Antisemitismus in der DDR nach und kommt zu der Einschätzung, dass die SED bei ihrer Bekämpfung scheiterte.

Von Sophie Bose

Ausgangspunkt von Waibels Analyse ist die Tatsache, dass bei den zahlreichen rassistischen Vorfällen, die sich seit 1990 im wiedervereinigten Deutschland ereigneten, der Anteil ostdeutscher Täterinnen und Täter überproportional hoch war. Waibel liefert in seinem Buch überzeugende Argumente dafür, dass dies nicht allein den politischen und sozialen Verwerfungen im Vereinigungsprozess, sondern auch einem speziellen und wirkmächtigen Rassismus in der DDR geschuldet ist.

Staatlich verordneter Antifaschismus
Im ersten Teil des Buches analysiert der Autor die historische Entwicklung der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung und benennt Ursachen für das Fortbestehen des Rassismus und Antisemitismus in der DDR. Einen der wichtigsten Gründe für die gescheiterte Bekämpfung des Rassismus sieht Waibel in der Ideologie der deutschen Arbeiterbewegung: Die Ursachen für Faschismus und Rassismus wurden allein auf die kapitalistische Volkswirtschaft reduziert. In diesem Sinne glaubte die SED, sie hätte durch die Verstaatlichung der Großindustrie, des Großgrundbesitzes, der Banken und der Konzerne Rassismus, Faschismus und Antisemitismus „mit Stumpf und Stiel ausgerottet“. In der DDR als per se antifaschistischem, sozialistischem Staat könne es demnach keinen Rassismus und Faschismus mehr geben. Wenn doch, dann wurde dafür der zersetzende und schädliche Einfluss westlicher Medien und Agenten verantwortlich gemacht.

Keine öffentliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Prägung der Bevölkerung

Die deutsche Bevölkerung der Sowjetischen Besatzungszone bzw. späteren DDR wurde nach dem 2. Weltkrieg offiziell auf die Seite der gegen den Faschismus siegreichen Sowjetunion gestellt. Tatsächlich handelte es sich jedoch um dieselbe Bevölkerung, die der Nationalsozialismus geprägt hatte und in der rassistische und antisemitische Einstellungen noch immer weit verbreitet waren. Mit der Prägung der Menschen im Nationalsozialismus, ihrer Rolle und ihren Einstellungen setzte sich die Gesellschaft nie öffentlich auseinander – denn nun gab es ja den neuen, sozialistischen Staat, der mit dem überkommenen faschistischen, weil kapitalistischen System nichts zu tun hatte. Die ostdeutsche Bevölkerung wurde als von den Nazis „verführt“ entschuldigt und blieb von selbstkritischen Tönen weitgehend verschont. Rassismus und Antisemitismus gab es offiziell nicht mehr, sie konnten jedoch weiter bestehen und neue Wege finden: Zum Beispiel hatte die antiimperialistische und antizionistische Politik der DDR gegenüber Israel und den arabischen Staaten klare antisemitische Züge.

„Es kann nicht sein, was nicht sein darf“: Geheimhaltung und Verleugnung

In einen Staat, der offiziell „Völkerfreundschaft“ und einen „proletarischen Internationalismus“ propagierte, passten Rassismus und Antisemitismus nicht. Dass er sich aber doch alltäglich ereignete, wurde deshalb systematisch verleugnet und verschwiegen. Die SED erließ ein Publikations- und Forschungsverbot über derartige Vorkommnisse. Das Zentralinstitut für Jugendforschung kam 1988 in einer Studie zu den pikanten Ergebnissen, dass 10 bis 15 Prozent der DDR-Bevölkerung „festgefügte rechtsradikale Denkmuster“ und bis zu 50 Prozent der Jugendlichen „rechtsradikale Gefühlsstrukturen“ aufwiesen. Die Studie wurde selbstverständlich als „vertrauliche Verschlusssache“ behandelt und gelangte nicht in die Öffentlichkeit. Mit dem offiziellen Totschweigen schuf die Regierung ein Klima, in der sich Rassismus, Neonazismus und Antisemitismus weiter ausbreiten konnten.

Ehemalige Nazis in Führungspositionen der DDR

Zwar wurde die oberste Führungsebene der DDR-Regierung durch aus dem Exil zurückgekehrte Kommunistinnen und Kommunisten besetzt. Trotzdem waren ehemalige hohe Nazis in allen ideologisch wichtigen, da massenwirksamen Bereichen (Armee, Medien, ZK…) vertreten und prägten sie mit ihren fortbestehenden rassistischen und antisemitischen Überzeugungen.

Nationalismus der deutschen Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung

In seiner historischen Analyse weist Harry Waibel der deutschen Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung einen völkischen Nationalismus nach, von dem folglich auch die DDR nicht frei war. Viele Menschen in der DDR waren von der Überlegenheit der deutschen Nation überzeugt, wurden im Bewusstsein der eigenen Zugehörigkeit zu „den Guten“ und im Hass gegen die kapitalistischen Gegner erzogen. Rassistische Angriffe auf Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter und andere (vermeintliche) Migrantinnen und Migranten ereigneten sich aus einem Gefühl der deutschen Überlegenheit. Außerdem fanden der latente Unmut und das Bewusstsein der Bevölkerung über die Unveränderlichkeit der politischen und sozialen Verhältnisse im Rassismus einen Ausdruck.

Alltäglicher und institutioneller Rassismus sowie Gewalt- und Propagandataten
Den zweiten Teil seines Buches widmet Waibel dem alltäglichen und institutionellen Rassismus und Antisemitismus in der DDR und den 8600 dokumentierten Propaganda- und Gewalttaten. Angeworbene ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter übten fast nur unqualifizierte Tätigkeiten aus und wurden in von der DDR-Bevölkerung vollkommen isolierten betriebseigenen Wohnheimen untergebracht. Bei einer Schwangerschaft mussten Arbeiterinnen entweder eine Zwangsabtreibung vornehmen lassen oder sofort in ihr Herkunftsland zurückkehren. Ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern wurde zu Restaurants häufig der Zutritt verwehrt und in Geschäften keine Waren an sie verkauft. Zahlreiche Jüdinnen uns Juden wurden aus der SED ausgeschlossen und flohen zu Hunderten aus der DDR. Es ereigneten sich zudem zahlreiche verbale und tätliche Angriffe auf Einzelpersonen und Wohnheime ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter, jüdische Friedhöfe und Gräber; es gab neonazistische, rassistische und antisemitische Schmierereien.

Wichtige Erkenntnisse, aber nicht leserfreundlich geschrieben

Harry Waibels Buch liefert einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Fortbestehens von Rassismus in der DDR nach dem Ende des Nationalsozialismus und der großen Lücke, die zwischen antifaschistischem Anspruch und alltagsrassistischer Wirklichkeit klaffte. Es liefert hochinteressante und neue Belege für derartige Propaganda- und Gewalttaten. Leider ist es nicht besonders leserfreundlich geschrieben: Die Struktur ist nicht immer klar, die Sätze sind kompliziert, es gibt zu wenige Überschriften und kaum Zwischenfazits, eingeleitete Zitate fehlen oder aber werden wiederholt. Diese wenig ansprechende Form schreckt zunächst ab. Das ist schade, denn die präsentierten Erkenntnisse machen das Buch zu einer lohnenswerten Lektüre. Dafür braucht man jedoch etwas Beharrlichkeit. 

Waibel, Harry (2014): Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR. Frankfurt am Main: Peter Lang Internationaler Verlag der Wissenschaften.

Die Amadeu Antonio Stiftung hat darüber hinaus 2010 die Ausstellung "`Das hat´s bei uns nicht gegeben!´ Antisemitismus in der DDR" entwickelt.

Auf der Mauer ist der Abdruck der Synagoge zu erkennen, die bis zur Pogromnacht 1938 an dieser Stelle stand. Erst im März 2006, lange nach der Wiedervereinigung, wurde eine Gedenktafel angebracht. © Nicola Galliner