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Erfindergeist statt Rassismus


Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ eine vergiftete Atmosphäre in der sogenannten „Integrationsdebatte“ geschürt. Nun hat der Berliner Verlag Blumenbar das „Manifest der Vielen“ veröffentlicht - als „Gegengift“.


Von Elisabeth Gregull


Das grelle, neonfarbene Cover schreit einen geradezu an. Und das ist dieses Buch auch: ein Aufschrei derer, über die in den letzten Monaten mit Vorurteilen und diskriminierenden Äußerungen hergezogen wurde: „die Muslime“. Die Herausgeberin Hilal Sezgin hat rund 30 im weitesten Sinn muslimische Intellektuelle eingeladen, ihre Sicht auf die Debatte und Deutschland zu Papier zu bringen. Frauen und Männer, mehr oder weniger religiös, liberal oder konservativ, geben mit dem „Manifest der Vielen“ eine facettenreiche und differenzierte Antwort auf die kruden Thesen Sarrazins.

Von Z bis A gegen Vorurteile

Das Buch dreht den Spieß um – Deutschland schafft sich nicht ab, „Deutschland erfindet sich neu“. Nicht nur dieser programmatische Untertitel ist ein direkter Bezug auf Sarrazins Buch und die ihm folgende Debatte. Nicht von A bis Z, sondern von Z bis A sind die Texte geordnet. Das angeblich „Normale“ in Frage stellen, viele Stimmen zu Wort kommen lassen statt nur einer – diese Programmatik dient dem Benennen von Tatsachen. Denn aus „den Muslimen“ werden mit einem Mal Individuen, mit unterschiedlichen Erfahrungen, Haltungen und Analysen. Zu Wort kommen unter anderem Schriftsteller wie Feridun Zaimoglu und Ilija Trojanow, die Professorin Yasemin Karakasoglu und Vertreterinnen und Vertreter muslimischer Organisationen.

Persönliche Geschichten und politische Auseinandersetzung


Biographische Erzählungen führen in interkulturelle Lebenswirklichkeiten. Davon, wie es ist, von zwei Kulturen geprägt zu sein und dies zu schätzen. Aber auch davon, wie Diskriminierung im Alltag ein ständiger Begleiter ist. Wie man immer wieder zur Türkin gemacht wird, auch wenn man Deutsche ist. Die Journalistin Hatice Akyün etwa hat diese Erfahrungen gemacht. Seit der „Sarrazin-Debatte“ denkt sie zum ersten Mal an Auswanderung. Und daran, was sie ihrer Tochter sagen sollte, falls diese einmal aus der Schule kommt und sagt: „Mami, die anderen sagen, ich bin dümmer, weil ich Türkin bin.“

Ein anderes Beispiel ist die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan von der Humboldt-Universität Berlin. Sie hat bereits vor Monaten gemeinsam mit ihrem Team das Dossier „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand“ veröffentlicht. Ihr Beitrag im „Manifest“ ist eine politische Analyse. Sie nimmt Behauptungen und Phrasen auseinander, thematisiert Rassismus in Deutschland und benennt, worüber man aus ihrer Sicht eigentlich reden müsste: „Über unsere gemeinsame Identität im pluralen Deutschland: die neue deutsche Identität, die sich nicht über Herkunft definiert oder Religion und Kultur - denn genau diese Form von Rassismus und Ausschluss gilt es zu überwinden.“

Ob privat oder politisch, gesellschaftskritisch oder ironisch – die Bandbreite der Beiträge im „Manifest der Vielen“ zeigt einmal mehr: uns kann man nicht in eine Schublade stecken, wir sind „Verschiedene“. Wenn das schon bei 30 nicht geht, wie sollen dann vier Millionen unter das Etikett „die Muslime“ passen?

Für ein plurales Deutschland

Die Perspektivenvielfalt trägt zu einer differenzierten Wahrnehmung bei. Und das ist angesichts der aufgeheizten Debatte der letzten Monate dringend nötig. In diesem Buch steckt mehr Realitätsbezug als in der „Sarrazin-Debatte“. Deutschland ist ein Einwanderungsland und der „Islam gehört zu Deutschland“, wie Bundespräsident Wulff wiederholt betont hat. Es braucht also Erfindergeist, um die Gegenwart und Zukunft eines pluralen Deutschland zu gestalten.

Die Lektüre ist kurzweilig, da die einzelnen Texte nicht sehr lang sind. Einige wurden bereits vorher in Zeitungen veröffentlicht. Da die Texte unabhängig voneinander geschrieben sind, wiederholt sich auch ein und dasselbe Argument zum Teil häufiger. Die Beiträge mögen mal mehr, mal weniger flüssig oder überzeugend geschrieben sein, manches ist sicher auch streitbar. Das ändert aber nichts daran, dass das „Manifest der Vielen“ das Potenzial zum „Gegengift“ hat. Wenn man bedenkt, dass Sarrazin mit seinem Buch sehr viel Geld verdient hat, kann man dem Buch nicht nur inhaltlich wünschen, dass es möglichst viele Leser findet.

Manifest der Vielen, Deutschland erfindet sich neu, herausgegeben von Hilal Sezgin, Blumenbar Verlag (Berlin), 2011 // € 12,90
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Elisabeth Gregull ist Fachjournalistin (DFJS) und arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen Diversity, Antidiskriminierung und Migration. Sie hat über zehn Jahre für Stiftungen und Organisationen gearbeitet, die sich für Demokratie und einen produktiven Umgang mit Vielfalt einsetzen.

 

Kampf um die Würde ernst nehmen

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Manifest der Vielen