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Die Stimmen der Überlebenden

Das Hörbuch „Als Kind wünschte ich mir goldene Locken“ versammelt Gespräche mit elf Überlebenden der Shoah. Die Journalistin Magdalena Kemper sprach mit ihnen über ihr wechselvolles Leben, über Verfolgung, Verlust und Neubeginn. Entstanden ist ein außergewöhnliches und bewegendes Hörbuch.

Von Elisabeth Gregull

Die Stimmen gehen unter die Haut. Jede einzelne. Die Stimmen von elf Frauen und Männern, die im hohen Alter zurückblicken auf ihr Leben vor und nach 1933. Immer wieder gelangen die Erzählungen an den Punkt, als es knapp war. Als eine riskante Flucht gelang, als jemand half, der einen auch hätte verraten können. Als selbst kurz vor Kriegsende nur die siegreichen Truppen der Alliierten zwei Straßenzüge vor der eigenen Wohnung das willkürliche Töten stoppten. Das eigene Überleben, wie oft war es dem Zufall geschuldet.

Ein Alltag, der sich von heute auf morgen ändert

Das Hörbuch ist begleitend zum Berliner Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ erschienen, mit dem 80 Jahre nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten an die Folgen erinnert wird. Die rbb-Redakteurin Magdalena Kemper fragt allerdings auch nach der Zeit davor, nach dem ganz normalen Leben von deutsch-jüdischen Familien vor 1933. Ein Fokus ist Berlin, denn viele der Interviewten sind hier geboren oder haben hier gelebt. Die Erzählungen spiegeln die Vielfalt jüdischen Lebens in der Stadt - ob Hutfabrik oder kaufmännische Tätigkeit, Justizdienst oder Kulturbetrieb, es sind Familien, deren Alltag verwoben ist mit dem städtischen Leben jener Zeit.

1933 ändert sich dann Schritt für Schritt alles. Der junge Schauspieler Gerhard Klein, eben noch beliebt und gefragt, soll nicht mehr in der Kindergruppe im Rundfunk auftreten. Eltern und Partner_innen verlieren ihre Arbeit. Und auch der Tennisclub schließt langjährige jüdische Mitglieder aus. Begleitet von einem Schweigen, das auch nach 1945 wieder dominiert: dem Schweigen der Mehrheit. Dem Schweigen derer, die eben noch Nachbar_innen und Kolleg_innen waren. In der Minderheit sind jene, die helfen. Die „Stillen Helden“, oft einfache Leute, die zum Beispiel Inge Deutschkron das Leben retten.

Versuche, ein Leben zu machen

Angesichts von Bedrohung und Entrechtung suchen die Betroffenen nach Wegen, zunächst noch ein halbwegs normales Leben zu führen und sich später möglichst in Sicherheit zu bringen. Die Strategien sind so verschieden wie die Menschen selbst: ein Jurastudium mit gefälschtem „Ariernachweis“, Exil mit mehreren Stationen, Flucht nach Palästina, Leben im Untergrund. Und immer wieder kleine Akte des Widerstandes und der Selbstbehauptung, und sei es auch nur der verbotene Gang ins Theater.

Als die Mutter von Margot Friedländer mit ihrem Sohn kurz vor der geplanten Flucht deportiert wird, hinterlässt sie ihrer Tochter eine Nachricht: „Versuche, Dein Leben zu machen“. So lautet auch der Titel des Buches, das Margot Friedländer 2009 veröffentlicht hat. Und letztlich versuchen dies alle Interviewten – trotz allem irgendwie weiterzumachen.

Beeindruckende Lebenswege sind es allemal. Und es stehen eben nicht nur das Leid, sondern auch das Lebenswerk und die Lebenserfahrungen der elf Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Mittelpunkt, ihr Wirken in der Nachkriegszeit. Unter ihnen zwei bekannte Fotografinnen, Gisèle Freund und Eva Kemlein, der Medizinhistoriker Gerhard Baader von der FU Berlin, die Dichterin Hilde Domin, die Journalistinnen Susanne von Paczensky und Inge Deutschkron ebenso wie Gerhard Klein, der nach seiner Rückkehr nach Deutschland in den fünfziger Jahren das Kino Capitol in Berlin-Dahlem übernahm und bekannt machte.

„Der jüngeren Generation die Hand reichen“

Einige der Interviewten haben sich nach Ende des Krieges oder später bewusst der Aufarbeitung der Unrechts gewidmet: in ihrer journalistischen oder juristischen Arbeit oder, wie der Medizinhistoriker Gerhard Baader, durch wissenschaftliche Forschung. Sie müssen allerdings die leidvolle Erfahrung machen, dass viele nichts von der Vergangenheit hören wollen.

Wahrscheinlich ist das Gespräch mit Margot Friedländer nicht ganz zufällig das letzte des Hörbuchs. Die Berlinerin überlebte zunächst im Untergrund und nach Entdeckung und Deportation auch Theresienstadt. Sie emigrierte mit ihrem Mann, der ebenfalls seine gesamte Familie verloren hatte, nach New York. Mit 88 Jahren entschied sie sich, für immer nach Berlin zurückzukehren.

Sie berichtet regelmäßig in Schulen und anderen Einrichtungen über ihr Leben, liest aus ihrem Buch. Ihre Motivation fasst sie mit ruhiger Stimme in folgende Worte: „Ich sage ihnen ja auch, dass ich hier bin, um ihnen die Hand zu reichen. Ich bin ja zurückgekommen, um mit ihnen zu sprechen. Um ihnen zu sagen, dass ich sie nicht anklage, dass ich ihnen keine Schuld gebe für das, was war. Aber dass ich auch von ihnen erwarte, dass sie diejenigen sind, die uns helfen werden, dass das nicht mehr passiert.“

Ein außergewöhnliches und kostbares Hörbuch

Mit vier CDs, über fünf Stunden Gesprächen und einem Booklet mit biografischen Informationen zu den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ist das Hörbuch ein wichtiger und äußerst hörenswerter Beitrag zum Berliner Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“.

Allerdings wäre vielleicht ein anderer Titel passender gewesen. Das Zitat „Als Kind wünschte ich mir goldene Locken“ ist doch eher ein naiver Kinderwunsch nach einem vermeintlichen Ideal. Die Gespräche indes zeugen von etwas anderem. Sie lassen elf außergewöhnliche Menschen zu Wort kommen, deren Geschichten bewegen. Deren Stimmen manchmal zittern, deren Analysen dennoch messerscharf sind und die trotz der versöhnlichen Töne gegenüber den jüngeren Generationen eines nicht vergessen lassen: sie haben überlebt, während Millionen andere von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

© rbb / Der Audio Verlag

Magdalene Kemper: „Als Kind wünschte ich mir goldene Locken“, Gespräche mit Überlebenden der Shoah, Hörbuch, rbb/ Der Audio Verlag (2013) 
 
Elisabeth Gregull ist Fachjournalistin (DFJS), ihre Schwerpunktthemen sind Migration, Diversity und die Folgen der NS-Zeit. Sie arbeitet u.a. für die Online-Redaktion „Migration-Integration-Diversity“ der Heinrich-Böll-Stiftung.
 

Cover des Hörbuchs "Als Kind wünschte ich mir goldene Locken" © rbb / Der Audio Verlag