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Wie unterstütze ich Opfer rechter Gewalt?


Ihr seht wie jemand in Eurer unmittelbaren Nähe beleidigt oder vielleicht sogar angegriffen wird. Nun bleiben nur Sekunden, um zu entscheiden. Wegsehen? Oder Eingreifen? Sofort Polizei rufen? Oder selbst schlichten? Was kann jeder tun, um Betroffenen rechter Gewalt zu helfen?

Von Franziska Jung

Kontinuierlich recherchiert Mut-gegen-rechte-Gewalt.de neonazistische Angriffe, seien es rassistische Äußerungen, Schmierereien oder gewaltsame Übergriffe, und veröffentlicht diese monatlich in einer Chronik der Gewalt. Diese Gewaltchronik liefert ein erschreckendes Bild und belegt, dass neonazistische Gewalttaten in Deutschland keine Ausnahmeerscheinungen sind. Jedem muss deshalb klar sein, dass man selbst überall und jederzeit Zeuge oder Zeugin neonazistischer Gewalt werden kann. Dieser Tatsache sollte man sich bewusst sein. „Es hilft, sich gedanklich schon bevor ein Angriff geschieht, mit einer solchen Situation auseinander zu setzen und sich mögliche Reaktionen zu überlegen“, erklärt Sabine Seyb von ReachOut, Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin.

Erkennen

Woran erkenne ich überhaupt, dass sich vor meinen Augen gerade eine Gewalttat ereignet? Auf diese Frage gibt es keine universelle Antwort. Wichtig ist, Augen und Ohren offen zu halten. Wer mit der Einstellung, dass sich Betroffene entweder selbst helfen oder schon irgendwie auf ihre momentane Situation aufmerksam machen, durchs Leben geht, kann davon ausgehen, dass er wohl kaum merken wird, wenn etwas nicht stimmt. Deshalb kann man letztlich nur dem Bauchgefühl, der eigenen Intuition vertrauen. Es gibt kein verlässliches Anzeichen, aber einem unguten Gefühl sollte man Beachtung schenken und im Zweifel lieber einmal zu oft helfen als einmal zu wenig.

Wichtig ist auch, dass es kein festes Schema für Gewalttaten gibt. Jeder kann zum Opfer und alles Mögliche zum Auslöser werden. Politisch Andersdenkende Jugendliche können beispielsweise von Neonazis angepöbelt werden, nur weil sie in dieselbe Straßenbahn gestiegen sind. Aufgrund ihrer Kleidung wird eine Gesinnung erkannt oder vielleicht auch nur vermutet, die die Neonazis nicht akzeptieren wollen. Doch was mit Beleidigungen und Provokationen beginnt, kann schnell eskalieren. Auch Demonstrationsteilnehmende, die beispielweise gegen einen Aufmarsch von Neonazis demonstrierten, können auf dem Heimweg zu Betroffenen werden. Das gleiche gilt für Menschen, bei denen ein Migrationshintergrund aufgrund rein äußerlicher Kriterien angenommen wird. Im Extremfall genügt ein falscher Blick, um unbeabsichtigt jemanden zu provozieren. Es kann letztlich jeden treffen, weshalb Hin- statt Wegschauen und Zivilcourage zeigen umso wichtiger ist.

Eingreifen

Rassistisches, antisemitisches oder neonazistisches Denken an und für sich ist nicht strafbar. Schließlich gilt in Deutschland die Meinungsfreiheit und Gedanken sind bekanntlich frei. Folgen der Meinung jedoch Taten, die beispielsweise bei lautstark geäußerten rassistischen Parolen beginnen und beim Hetzen, Anpöbeln und schließlich Angreifen von „Anderen“ – egal, ob diese aufgrund von Religion, Aussehen oder Denken als „anders“ eingestuft werden – enden, ist dies eine Straftat. Und diese sollte und darf niemand dulden, unterstützen oder ignorieren.

Beobachtet ihr eine solche Situation sind schnelle Entscheidungen gefragt. Natürlich ist sofortiges Eingreifen die wünschenswerte Reaktion. Jedoch erfordert dies immer eine große Portion Mut. Gerade, wenn jemand, den man nicht kennt, angegriffen wird, zögert man länger, als wenn es darum geht, einem Freund oder Bekannten beizustehen.
Auch ReachOut sieht hier die größte Hürde: „Unbeteiligte Beobachterinnen und Beobachter eines Angriffes haben häufig Angst, die Betroffenen zu unterstützen, weil sie befürchten, selbst geschlagen und verletzt zu werden. Manchmal sind Passantinnen und Passanten einfach auch nur verunsichert, worum es in einer gewalttätigen Auseinandersetzung geht, haben keine Zeit, wollen keine Probleme. Und manchmal finden sie es vielleicht auch gar nicht so falsch, was da gerade passiert und stimmen dem mehr oder weniger heimlich zu.“

Um den nötigen Mut aufzubringen, ist es hilfreich sich die dafürsprechenden Gründe vor Augen zu halten.

Erstens: Schaut man tatenlos zu, wie andere eine Straftat begehen, wertet der Täter das Schweigen als Zustimmung. Dahinter steckt die Logik, dass die Beobachtende offensichtlich sein Verhalten gut finden, ansonsten würden sie ja protestieren. Dies entspricht natürlich nicht der Logik unschlüssiger Zeuginnen und Zeugen. Jede Form der Äußerung ist also besser als Gewalt durch Wegschauen oder Ignorieren zu tolerieren. „Da die Täterinnen und Täter häufig nicht damit rechnen, dass überhaupt jemand sich auf die Seite der Opfer stellt, kann schon der Überraschungseffekt dazu führen, dass sie den Angriff beenden. Manchmal geht einer gewalttätigen Auseinandersetzung eine Beschimpfung oder verbale Beleidigung voraus. Es ist sinnvoll, sich schon dann einzumischen und den Täterinnen und Tätern zu signalisieren, dass die Betroffenen Unterstützung haben“, erläutert Seyb.

Zweitens: Jeder ist rechtlich verpflichtet, anderen Hilfe zu leisten, wenn die Situation es verlangt. Damit kann das Nicht-Eingreifen bei gewalttätigen Übergriffen als unterlassene Hilfeleistung strafrechtlich belangt werden. Dies gilt selbstverständlich nur, solange man sich nicht gefährdet.

Drittens: Man kann sich nicht darauf verlassen, dass andere eingreifen werden. Wenn jeder davon ausgeht, hilft am Ende niemand.

Viertens und zugleich am ausschlaggebendsten: Man sollte sich stets vor Augen halten, dass man selbst an der Stelle des Betroffenen sein könnte. Jeder tatenlose Zuschauer wäre eine Enttäuschung und für jede Hilfe wäre man in dieser Lage dankbar. „Für die Opfer macht es jedoch einen ganz entscheidenden Unterschied bei der Verarbeitung des schrecklichen Erfahrung, ob sie alleine gelassen wurden oder ob jemand sie unterstützt hat, sei es auch nur, um die Polizei zu rufen und als Zeuginnen oder Zeugen zur Verfügung zu stehen. Niemand soll sich selbst gefährden und die eigenen Möglichkeiten überschätzen. Die Polizei und die Feuerwehr zu verständigen ist eigentlich immer möglich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen“, erklärt Sabine Seyb von ReachOut.

Notbremse, Abstand, andere einbinden

Die Erkenntnis, dass man nun in der Pflicht ist, ist nur der erste Schritt, dem schnellstmöglich Taten folgen müssen. Grundsätzlich ist es immer ratsam, sofort über den Notruf die Polizei zu informieren. Diese muss jedem gemeldeten Fall nachgehen. In Zügen, S- und U-Bahn kann auch die Notbremse gezogen werden. Außerdem sind in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Bahnsteigen oft Notfallknöpfe zu finden, über die man Hilfe erhält.

Nachdem man professionelle Hilfe als Verstärkung alarmiert hat, kann man je nach Situation auch direkt Handeln und sich dabei vor allem den Überraschungsmoment zu Nutze machen. Wenn beispielsweise ein Neonazi in der Straßenbahn einen Jugendlichen lautstark beschimpft, rechnet er nicht damit, dass ihm jemand widerspricht. Um deutlich zu machen, dass Du sein Verhalten nicht akzeptierst, sprich ihn laut und deutlich an. Dabei sollten weitere Provokationen wie durch Berühren, Anstarren oder Gewaltanwendung vermieden werden. Sinnvoll ist es auch die/den Täter/in zu siezen, damit Umstehenden deutlich wird, dass dies keine private Auseinandersetzung ist. Eine vielleicht einfacher umzusetzende Strategie ist es, dass Opfer direkt anzusprechen und Hilfe anzubieten.

Ist man der erste, der in einer verbalen oder gewalttätig ausgetragenen Auseinandersetzung einschreitet, sollte man sich weitere Unterstützerinnen und Unterstützer suchen. Dafür müssen andere Beobachtende gezielt angesprochen und zum Eingreifen aufgefordert werden. In der Gruppe fühlt man sich sicherer und agiert gegen die/den Täter/in durchsetzungsfähiger.

Bei dem Wunsch zu helfen und eine Eskalation zu vermeiden, sollte jedoch nie die Gefahr für einen selbst außer Acht gelassen werden. Wenn beispielsweise eine Gruppe von 20 Neonazis, die zudem auch angetrunken sein könnten, einen Einzelnen angreifen und man selbst ist weit und breit der einzige Zeuge, dann sollte man sich nicht selbst in Gefahr begeben. Stattdessen sollte umgehend die Polizei alarmiert werden. Außerdem kann man sich Merkmale der Täter einprägen, die später bei der Ermittlung hilfreich sein können.

Beistehen/Unterstützen

Ist es gelungen den/die Täter/innen erfolgreich in die Flucht zu schlagen, sollte nun die Aufmerksamkeit den Betroffenen gelten. Beruhigen, Erste Hilfe leisten und auf das Eintreffen der Polizei warten, um Deine Aussage zu Protokoll zu geben – das sind die nächsten Schritte. Denn wurde man Zeuge oder Zeugin einer Straftat, ist die eigene Beobachtung für die Belangung des Täters oder der Täterin von unschätzbarem Wert. Deshalb ist es ratsam direkt nach der Tat in einem Gedächtnisprotokoll alle Einzelheiten zu Tätern und Täterinnen, Situation und Tathergang festzuhalten.

Da bei fehlenden Beweisen oder eben Beobachtenden einer Straftat der Täter oft, entsprechend dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“, frei gesprochen wird, hat man als Zeuge oder Zeugin eine wertvolle Möglichkeit. Man hilft den Betroffenen ein weiteres Mal, wenn man zur Klärung der Straftat beiträgt und leistet einen Beitrag zur Bestrafung des Täters oder der Täterin.

Natürlich muss man auch als Zeuge oder Zeugin die begründete Gefahr fürchten, durch die eigene Aussage ins Visier neonazistischer Gruppen zu geraten, die die erstattete Anzeige oder die vor Gericht gemachte Aussage „bestrafen“ wollen. Deshalb kann man nicht nur als Opfer, sondern auch als Zeuge oder Zeugin Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Beratungsmöglichkeiten bietet unter anderem in Berlin auch ReachOut. Sabine Seyb erklärt: „ReachOut berät und unterstützt all diejenigen, die in Berlin Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Bedrohung geworden sind und deren Angehörige und Freundinnen und Freunde. Das ist vor allem dann ganz wichtig, wenn die Opfer Jugendliche oder Kinder sind. Außerdem beraten wir Zeuginnen und Zeugen von Angriffen. Sie sind mit ganz ähnlichen Folgen eines Angriffs konfrontiert, besonders wenn sie den Opfern geholfen bzw. eingegriffen haben. Auch im Umgang mit polizeilichen Vernehmungen oder mit Gerichtsverhandlungen haben sie Fragen und Ängste, wie die Opfer selbst.“ Um dies zu gewährleisten bietet ReachOut umfangreiche Beratungsmöglichkeiten, die emotionale Unterstützung, Entscheidungshilfen zum weiteren Vorgehen nach einem Angriff , Hinweise zu juristischen Möglichkeiten (Anzeige, Nebenklage etc.), Unterstützung bei der Suche nach Rechtsanwältinnen und -anwälten, Begleitung zu Polizei, Behörden, Gerichtsterminen, ÄrztInnen etc., Vor- und Nachbereitung von Gerichtsverfahren, Beratung über finanzielle Unterstützung (Prozesskostenhilfe, Entschädigungszahlungen etc.), Psychosoziale Beratung sowie Vermittlung von therapeutischen Angeboten umfassen.
 
Foto: von lecasio via
Flickr, cc

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