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Mauer des Schweigens in Mittweida

Nach einem brutalen rechtsextremen Übergriff in der sächsischen Stadt Mittweida am 3.  November werden immer noch Zeugen gesucht. Bürgermeister Matthias Damm (CDU) sagte, er erwarte Zivilcourage von denen, die den Vorfall beobachtet haben. Dem 17-jährigen Opfer winkt indessen eine Ehrung des Bündnisses für Demokratie und Toleranz: >klick

Angst und Gleichgültigkeit sind nach Ansicht der sächsischen Opferberatung AMAL die Gründe für die mangelnde Aussagewilligkeit möglicher Zeugen. „Viele haben einfach Angst, dass sie Probleme mit den Neonazis bekommen könnten“, sagte AMAL-Sprecher Ingo Stange.
Dem 17-jährigen Opfer winkt indessen eine Ehrung des Bündnisses für Demokratie und Toleranz: >klick

Manch ein Zeuge scheue aber auch eine Aussage wegen schlechter Erfahrungen mit der Polizei. „Sie fühlten sich vielleicht einmal nicht ernst genommen und gehen deshalb nicht mehr zur Polizei“, sagte Stange. Seine Organisation bietet Opfern rechter Gewalt Unterstützung an. Zudem steht sie bei Bedarf Zeugen zur Seite.

Wie Polizei und Staatsanwaltschaft am 23.11. nach neun Tage langen Vorermittlungen mitteilten, sollen am 3. November vier Neonazis einem Mädchen ein Hakenkreuz in die Haut geritzt haben. Ein Polizeisprecher sagte, Untersuchungen der Gerichtsmediziner hätten ergeben, dass die Jugendliche sich die Wunden nicht selbst zugefügt haben könne. Die 17-Jährige war eigenen Angaben zufolge seinerzeit couragiert einem kleinen Spätaussiedlermädchen zu Hilfe geeilt, das von vier Rechtsradikalen herumgeschubst worden war und bereits laut geweint hatte. Daraufhin warfen die vier Männer die junge Frau zu Boden. Während sie drei Täter festhielten, schnitt der vierte ihr mit einem skalpellähnlichen Gegenstand ein Hakenkreuz in die Hüfte. Zudem versuchte er, der jungen Frau eine Rune in die Wange zu schneiden. Das Opfer berichtete, Anwohner hätten das Geschehen von ihren Balkonen aus verfolgt, aber noch keiner von ihnen hat ausgesagt. 

Ermittler: Fall ist glaubwürdig

Die Jugendliche hatte den Vorfall erst neun Tage später angezeigt. Die Ermittler halten ihre Aussagen für glaubwürdig. Denn auch das kleine Mädchen bestätigte den Hergang. Rechtsextreme versuchen allerdings vehement in Foren und Mails (s.u.) Zweifel an der Darstellung zu streuen, da sich in einem frühreren Fall ein Mädchen selbst spiegelverkehrt ein Hakenkreuz eingeritzt hatte und dann Neonazis beschuldigte. In diesem Fall haben aber sogar Rechtsmediziner ausgeschlossen, dass sich die junge Frau die Verletzung selbst zufügte.

Die Polizei hatte bereits einen Verdächtigen aus dem Raum Burgstädt ermittelt, bei dem unter anderem Anstecker der verbotenen Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34" sowie Datenträger sichergestellt wurden. Einen Haftbefehl lehnte das Amtsgericht Chemnitz ab, da der Tatverdacht nicht ausreichend nachzuweisen war. Gegen den 19-Jährigen werde aber weiter ermittelt, sagte die Polizeisprecherin am Sonntag.

Bürgermeister will mit Anwohnern sprechen

Mittweidas Bürgermeister Matthias Damm schrieb indessen rund 100 Briefe an Anwohner des vermeintlichen Tatorts - bis Anfang Dezember ohne Resonanz.  Der Vorfall habe sich in einem Wohngebiet ereignet, in dem viele ältere Menschen leben. "Wenn es so wäre, dass niemand geholfen hat, wäre das für mich eine Schande", sagte Damm. Jeder hätte zum Telefonhörer greifen und informieren können, ohne Angst haben zu müssen, entdeckt zu werden. "Mindestens das muss sein, diese Zivilcourage erwarte ich einfach".

Polizei baut in Sachsen mobile Fahndungstruppen wieder auf

Landespolizeipräsident Bernd Merbitz sagte der "Sächsischen Zeitung",es  sollen spätestens Anfang Dezember mobile Einsatz- und Fahndungsgruppen, "die wir schon einmal hatten, wieder in allen Regierungsbezirken präsent sein". Auf diese Weise wolle die Polizei künftig genau dort mit Einsatzkräften vor Ort sein, wo sich rechte Täter zu Straftaten verabredeten und versammelten. "Wir bemühen uns dabei um personelle Verstärkung", betonte der Landespolizeichef.

 

 

Weiterer Übergriff in Brandenburg


Im brandenburgischen Groß Kreutz malten nach Angaben der Polizei am Samstag Unbekannte einem betrunkenen 15-Jährigen ein Hakenkreuz mit einem Filzstift in den Nacken. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Täter den Fall Mittweida zum Vorbild nahmen, sagte ein Sprecher. In Berlin ritzten Unbekannte an mindestens zwölf Autos Hakenkreuze in den Lack von Motorhauben und Heckklappen.

Fahndungsaufruf

Um den Fall aufzuklären, hatten am Freitag die Staatsanwaltschaft Chemnitz und die Polizeidirektion Chemnitz-Erzgebirge folgende gemeinsame Presseerklärung aus dem Revierbereich Mittweida veröffentlicht und Phantombilder veröffentlicht:

"Am 12.11.2007 wurde bei der Polizei eine Straftat angezeigt, die bereits am 3.11.2007 begangen wurde.
An jenem Samstag, dem 3.11.2007, war eine 17-jährige Jugendliche auf der Lauenhainer Straße zu Fuß unterwegs. Im Bereich vor dem NORMA-Markt bemerkte sie, wie vier junge Männer ein Kind herumschubsten. Das Mädchen weinte bereits laut.
Die 17-Jährige rief den Männern zu, sie mögen das Mädchen in Ruhe lassen. Daraufhin ließen sie von dem Kind ab, griffen die Jugendliche an und rissen sie zu Boden. Drei der Tatverdächtigen hielten nun die 17-Jährige fest, während der vierte ihr mit einem skalpellartigen Gegenstand ein ca. 5 cm großes Hakenkreuz in die Haut im Hüftbereich ritzte. Der Versuch der Täter, in die Wange des Opfers eine Sigrune zu ritzen, scheiterte an dessen Gegenwehr. Anschließend ließen die Täter von der Jugendlichen ab, so dass sie flüchten konnte. Dem Kind als dem ursprünglichen Opfer der Täter war zwischenzeitlich ebenfalls die Flucht gelungen.

 

 

Nachdem die Tat am 12.11.2007 angezeigt worden war, nahm das Kommissariat Staatsschutz der Chemnitzer Kripo die Ermittlungen auf. Im Umfeld des Tatortes konnten keine Personen ermittelt werden, die Zeugen des Geschehens geworden sind. Nach Aussage der 17-Jährigen habe sie auf Balkons umliegender Häuser jedoch Menschen bemerkt, denen der Vorfall nicht entgangen sein kann.
Durch die Ermittlungen der Kriminalpolizei gelang es, am 15.11.2007 jenes Kind namhaft zu machen, dem ursprünglich der Angriff der Männer galt. Dabei handelt es sich um ein sechsjähriges Spätaussiedlermädchen, das den von der 17-Jährigen geschilderten Hergang bestätigte.
Schließlich konnten die Beamten einen 19-Jährigen aus dem Raum Burgstädt ermitteln, der im Verdacht steht, an der Tat beteiligt gewesen zu sein, in dem er die 17-Jährige mit festhielt.

Bei der Durchsuchung des Zimmers des 19-Jährigen in der elterlichen Wohnung stellten die Beamten mit Sand gefüllte Lederhandschuhe, einen Button mit dem Aufdruck "Sturm 34" und Datenträger sicher.

Die Staatsanwaltschaft Chemnitz beantragte gegen den Beschuldigten den Erlass eines Haftbefehls. Die Untersuchungshaft wurde beim Amtsgericht Chemnitz jedoch abgelehnt, da der Tatverdacht gegen 19-Jährigen nicht ausreichend nachweisbar war.

 

Phantombilder veröffentlicht

Mit Hilfe der 17-Jährigen konnten nunmehr Phantombilder erstellt werden, die zwei der vier Männer zeigen, die an der Tat beteiligt waren. Die Polizei hofft mit der Veröffentlichung der Phantombilder Hinweise zur Identität der Personen zu erhalten und darauf aufbauend auch die anderen Verdächtigen ermitteln zu können.

Zu den Tatverdächtigen liegen außerdem folgende Personenbeschreibungen vor:

1.Täter: 21 bis 25 Jahre alt, 1,80 m bis 1,85 m groß; kräftige, etwas schlaksig wirkende Gestalt, glatzköpfig, zur Tatzeit bekleidet mit dunkler Jacke mit dem Aufdruck "Lonsdale" und einem Löwenkopf sowie Schnürschuhen,

2. Täter: 21 bis 25 Jahre alt, 1,80 m bis 1,85 m groß, glatzköpfig, tätowierte Träne unter dem rechten Auge; zur Tatzeit bekleidet mit dunkler Jacke mit Aufnäher "NSDAP" und Springerstiefeln,

3. Täter: 21 bis 25 Jahre alt, 1,80 m bis 1,85 m groß; kräftige Gestalt, glatzköpfig, ovale Kopfform und sehr schmale Augenbrauen; bekleidet zur Tatzeit mit dunkler Hose und dunkler Bomberjacke mit Aufschrift "NSDAP", auffällig waren nach unten hängende schwarz-weiß-rote Hosenträger,

4. Täter, welcher der Geschädigten die Verletzung beibrachte: kräftige Gestalt, glatzköpfig, am Ringfinger und kleinen Finger der rechten Hand war jeweils eine Sigrune tätowiert; weitere Tätowierungen auf anderen Fingern sind wahrscheinlich vorhanden; bekleidet zur Tatzeit mit dunklen Schuhen und dunkler Hose.

Wer kennt die auf den Phantombildern abgebildeten Männer? Wer kann Angaben zur Identität der beschriebenen Personen machen? Wer hat die Tat am 03.11.2007 beobachtet und kann weitere Angaben zum Tathergang und den Tatverdächtigen machen? Hinweise in dieser Sache, die auf Wunsch auch vertraulich behandelt werden, nehmen die Polizeidirektion Chemnitz-Erzgebirge unter Tel. 0371 387-2319 oder jede andere Polizeidienststelle entgegen.

Aufruf am Sonntag noch ohne Folgen 

Die Polizei hatte den Vorfall, der vom Mädchen am 12. November zur Anzeige gebracht wurde, aus ermittlungstaktischen Gründen erst am Freitag öffentlich gemacht. Zuvor war der 19-Jähriger aus der Region Burgstädt, der sich selbst als früherer Anhänger der inzwischen verbotenen rechtsextremistischen Kameradschaft "Sturm 34" bezeichnet haben soll, als Mittäter in Verdacht geraten. Er habe jedoch vom Opfer in einer Gegenüberstellung nicht als Täter identifiziert werden können, hieß es weiter. Die 17-Jährige ist sich nach Polizeiangaben sicher, dass in den Häusern gegenüber dem Tatort Bewohner auf den Balkonen gewesen seien und den Überfall gesehen haben müssten. Auch der Supermarkt sei während der Tatzeit noch geöffnet gewesen. Hinweise hat es indessen offenbar zu den Phantombildenr gegeben, bislang aber ohne dass es zu Festnahmen kam. 

Bürger und Bürgerinnen reagieren

Immerhin bringt die grausame Tat die Bürgerinnen und Bürger von Mittweida dazu, sich intensiv gegen den Rechtsextremismus zu positionieren: So fand am Sonntag eine spontane Demonstration mit rund 500 Teilnehmenden statt, am Dienstag folgt eine weitere Demonstration, die von der Hochschule Mittweida organisiert wird.

Leider fehlen der Polizei aber immer noch verwertbare Zeugenaussagen zum Übergriff."

Letzte Aktualisierung: 3.12. / H.Kulick

Phantom in Mittweida? (3.12.) >klick
Wie Mittweida reagiert (29.11.)
>klick
Ehrenpreis für 17-jährige vorgeschlagen: >klick
Mehr unter: http://www.polizei.sachsen.de/pd_ce/5896.htm

Ausführlicher Bericht spiegel.de: >klick 
Hintergrund Sturm 34 auf redok.de: >klick
TV-Berichte des MDR aus Mittweida: >klick