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Sarrazin 2.0

Der Massenmörder von Oslo ist der erste Terrorist einer auch bei uns tief verwurzelten antiislamischen Bewegung – getragen nicht von Neonazis, sondern von rasendem Bürgertum. Wir brauchen eine zweite Sarrazin-Debatte.

Von Hans-Ulrich Jörges, mit freundlicher Genehmigung des Magazins stern

Man fragt sich, ob es Unverstand ist oder Ablenkung. Mag sein, dass die Abteilung Unverstand von Hans-Peter Friedrich, dem Innenminister, besetzt ist, der nach dem norwegischen Massaker vor „nationalen Autonomen“ warnt, jugendlichen Neonazis. Gut möglich, dass Andrea Nahles, die SPD-Generalsekretärin, mit Bedacht ablenken möchte, indem sie nach einem Verbot der NPD ruft. Denn wie nimmt es sich jetzt aus, nach der Ermordung junger Sozialdemokraten durch den Islam-Hasser Anders Behring Breivik, dass die SPD den Muslim-Phobiker Thilo Sarrazin aus reinem Opportunismus in der Partei behielt? Sarrazin unter Sozialdemokraten, das ist eine Schande für die Partei Willy Brandts, der in Norwegen im Exil war. Sigmar Gabriel scheint darüber zumindest Scham zu empfinden, denn er benennt den Zusammenhang zwischen Antiislamismus à la Sarrazin und der Gefahr von Gewalt wie in Oslo.

Nein, rechtsextremistisch, neonazistisch im klassischen Sinn ist jene antimuslimische Bewegung nicht, auf die sich nun der Blick der Öffentlichkeit richtet, die zwischen Ablehnung und Hass oszilliert und in Norwegen ihren ersten Terroristen hervorgebracht hat. Diese europaweit eng verflochtene Bewegung rekrutiert sich nicht aus Randmilieus, sie wurzelt tief und breit in der Mitte der Gesellschaft. Ihre deutsche Plattform, das Internet-Blog „Politically Incorrect“ (PI) des Sportlehrers Stefan Herre aus Bergisch Gladbach, zählt seit Mai 2008 mehr als 43 Millionen Besucher und ist keineswegs antisemitisch oder antiisraelisch. Im Gegenteil: PI tritt – wie auch der strohblonde Massenmörder von Oslo in seinem 1518 Seiten langen Internet-Manifest – dezidiert proisraelisch auf, zählt den jüdischen Publizisten Henryk M. Broder zu seinen Helden, bietet Links an zur Website der israelischen Botschaft oder zum Weblog „Jewish Internet Defense Force“ und offeriert T-Shirts mit den Aufdrucken: „Sarrazin statt Muezzin“, „Wien 1683“ (wo die Türken geschlagen wurden) und „Gemeinsam für Israel“. Neonazis? Unsinn.

PI feiert als Leitfiguren Thilo Sarrazin, der beklagt: „Deutschland schafft sich ab“, wie den holländischen Rechtspopulisten Geert Wilders, der den Islam faschistisch nennt und ein Verbot des Koran fordert, „das ‚Mein Kampf‘ einer Religion, die andere eliminieren will“. Beider Publikum, in den Niederlanden bei Wahlen, in Deutschland bei Sarrazins umjubelten Lesungen, ist rasendes Bürgertum. Ich habe es kennengelernt, als ich nach Kritik an Sarrazin, stimuliert von PI, überschwemmt wurde von Hass-Mails, gipfelnd in dem Satz: „Alle gläubigen Moslems, die nach dem Koran leben, sind potenzielle Mörder.“

Vom Hass verblendete Antiislamisten auch?, möchte man nun zurückfragen. Zwar gingen die PI-Macher erschrocken auf Distanz zu Breivik: „der größte Feind der Islamkritik“. Und am Sarrazin-Hype beteiligte Medien suchten ihn als „Teufel“ irdischen Zusammenhängen zu entziehen, „Bild“ startete gar flugs einen Entlastungsangriff auf Gabriel. Doch bei PI rutschten überaus verräterische Statements zu dem Massenmörder durch: „Was er schreibt, hört sich ganz vernünftig an.“ Oder: „Den über 1 Million Ermordeter aus den 17 000 islamischen Attentaten stehen nun 90 Tote aus einem singulären christlichen Terroranschlag gegenüber.“
Das mörderische Manifest taucht vieles in ein neues Licht, das im selben Gedankengebäude wohnt: die Angst vor Europas Untergang. Breivik wie Broder erkennen muslimische „No-go-Areas“; Breivik zitierte gar eine Empfehlung Broders, aus Europa auszuwandern. Breivik wie Sarrazin rechnen europäische respektive deutsche Fertilität gegen islamische Fruchtbarkeit auf; beide halten muslimische Migranten ökonomisch für nutzlos. Und wie liest sich nun Sarrazins Albtraum? „Das Deutsche in Deutschland verdünnt sich immer mehr, und das intellektuelle Potenzial verdünnt sich noch schneller. Wer wird in 100 Jahren ‚Wanderers Nachtlied‘ noch kennen? Der Koranschüler in der Moschee nebenan wohl nicht.“ Was richten solche Sätze an?

Die Verwirrung der Geister reicht bis hinauf in die Elite. Noch am Wochenende vor dem Blutbad verteidigte der alt-ehrwürdige Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi, Spross einer Familie des Widerstands gegen Hitler, Sarrazins These von der Vererbung minderer Intelligenz bei den Muslimen: „Sigmar Gabriel hat behauptet, man dürfe nicht über genetische Themen reden. Das war ein grober politischer Fehler.“ Ein Fehler war, solche Sätze zu beschweigen. Verbieten lassen sie sich so wenig, wie ihre Urheber in die Dateien des Verfassungsschutzes gehören. Aber Widerspruch ist geboten – in einer zweiten Sarrazin-Debatte. Das wird man doch noch mal sagen dürfen? Nicht noch mal.
 

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