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Naziproblem oder „Rechtsextremismus“


In den Diskussionen um den Extremismusbegriff taucht stets eine Frage auf: Wenn nicht von „Rechtsextremismus“ wovon soll stattdessen gesprochen werden? Der Antidiskriminierungsansatz bietet darauf zwei Antworten: Probleme als das benennen, was sie sind und Betroffene nicht problematisieren. Ein Kommentar.

Die Diskussion um den Extremismusansatz und dessen Folgen für die Arbeit gegen Nazistrukturen und nazistische, menschenfeindliche und diskriminierende Einstellungen und Handlungen ist nicht neu. Seit Jahren verweisen Wissenschaft und Praxis darauf, dass die Unterscheidung zwischen einer politischen „Mitte der Gesellschaft“ und deren extremen Rändern empirisch nicht haltbar ist, weil sie sich in einem komplexen Geflecht z.B. rassistischer, antisemitischer, völkischer, sozialdarwinistischer, autoritärer bzw. radikaldemokratischer, anarchistischer, sozialistischer, kommunistischer usw. Einstellungen auflöst.

Die Erkenntnis: Rein in die Mitte

Als politische Gegenkonzepte empfehlen die Autorinnen und Autoren der verschiedenen Einstellungsstudien deshalb eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den genannten Einstellungen und die Stärkung einer partizipativen, demokratischen Streitkultur, statt auf Law-and-Order-Politik zu setzen. Insbesondere die weite Verbreitung von Rassismus als „Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus“ müsse problematisiert werden. Die Auseinandersetzung müsse gleichzeitig in der gesamten Gesellschaft und ihren Institutionen: in der Ausbildung, am Arbeitsplatz, in der Verwaltung und in Freizeitorganisation geführt werden, statt ein Jugend-, Gewalt-, bzw. Minderheitenproblem zu konstruieren.

In der Praxis hat sich das mittlerweile durchaus niedergeschlagen. Zahlreiche Beratungs-, Aufklärungs- und Sensibilisierungsprojekten engagieren sich allen extremismustheoretischen Förderlogiken und Antragsformularien zum Trotz für Betroffene ganz unterschiedlicher Form von rassistischer Diskriminierung oder diskutieren in breiten gesellschaftlichen Schichten über Antisemitismus oder über normierende Geschlechterbilder.

Das Dilemma: Alle reden von der Mitte

Trotzdessen bleibt man meist in den bekannten Begrifflichkeiten hängen: Man bezeichnt sich weiterhin als „Rechtsextremismusexperte“, spricht vom „Extremismus der Mitte“ , definiert Nazistrukturen weiter als Phänomen des „Rechtsextremismus“ oder „der extremen Rechten“. Viele arbeiten weiter in Bündnissen „gegen Extremismus“ und weisen darauf hin, dass es in ihrer Region gerade gar kein Problem mit „Linksextremismus“ gäbe, statt solche Bezeichnungen mit Verweis auf die politischen Folgen des Extremismusansatzes zu verweigern. Denn damit machen sie den „unwissenschaftlichen“ Extremismusansatz diskursiv wirkmächtig. Und wiederholen seine Logik: Das Bild einer demokratischen Mitte der Gesellschaft, die ihre Wertvorstellungen, gegen die Bedrohung von den „extremen Rändern“, von „außen“ also verteidigen muss.

Die Gründe für diesen Widerspruch zwischen Erkenntnis und Praxis sind sicherlich vielfältig: Das Vokabular und die Logik der Förderprogramme, von der die eigene Arbeit finanziell abhängig ist, folgen der Extremismusformel. Lokale Bündnisse mit möglichst vielen gesellschaftlichen Akteuren sind leichter zu schließen und erscheinen damit größer und erfolgreicher, wenn der Streit um die „Extremismusfrage“ nicht geführt wird. Politische Anerkennung und gesellschaftliche Unterstützung steigen eher, wenn das Engagement sich „Gegen Extremismus und Gewalt“ richtet, als gegen rassistische Diskriminierung in Behörden, gegen völkisch-nationalistische Statements im Stadtrat und der lokalen Presse oder gegen sexistische und homophobe Sprüche beim lokalen Sportverein.

Trotzdem oder gerade deshalb sind gesellschaftspolitische Intervention und Prävention immer auch streitbar und umstritten. Sie muss individuelle Einstellungsmuster, aber auch institutionelle Praktiken und gesellschaftliche Diskurse problematisieren, die soziale Ungleichheit als naturgewollt und dadurch Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließen.

Die Lösung: steckt im Detail

Dass das möglich ist, ohne auf begriffliche Klarheit in der Beschreibung der eigenen Arbeit, der eigenen Ziele und der eigenen Problemanalyse verzichten zu müssen, zeigt der Antidiskriminierungsansatz. Antidiskriminierungsarbeit richtet den Blick auf Benachteiligungen bzw. Herabwürdigungen von Menschen aufgrund rassistischer oder antisemitischer Zuschreibungen, der Religion, des Geschlechts, des Lebensalters, der sexuellen Orientierung, wegen einer Behinderung oder aufgrund der sozialen Herkunft. Diese Diskriminierungsdimensionen entsprechen genau den von Decker/Brähler, Heitmeyer u.a. skizzierten Ideologien der Ungleichheit, also Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Sozialdarwinismus, Homophobie und Abwertung von Obdachlosen und von behinderten Menschen. Die Untersuchungen des Antidiskriminierungsbüros haben gezeigt, dass Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig auftritt:

» als individuell diskriminierende Handlung einzelner Menschen,
» als diskriminierende Struktur, z.B. in Gesetzen oder in Verwaltungsverfahren,
» als Diskriminierung auf der Ebene der Öffentlichkeit, z.B. in stereotypen Bildern über „die Anderen“ und in politischen Debatten, in denen Zugehörigkeit und Normalität verhandelt wird.

Die Spitze des Eisbergs stellen zweifelsohne gewaltförmige Übergriffe dar. Auf Dauer aber nicht weniger verletzend und ausschließend – und für viele Betroffene wesentlich präsenter – sind jedoch die anderen Ebenen von Diskriminierung. Rassismus und andere Formen von Diskriminierung sind kein individuelles Problem, sondern institutionell verankerte und sozial legitimierte Alltagsphänomene, die in ihrer Komplexität bezeichnet, analysiert und thematisiert werden müssen.

Betroffene einbeziehen

Für die Praxis heißt das zunächst: Stärkung und Einbeziehung der Betroffenen, durch Information, Beratung und Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte auf Gleichbehandlung. Auf der anderen Seite geht es darum, diskriminierende Strukturen und Ausschlussmechanismen zu erkennen und zu verändern. Deshalb muss auch die Mehrheitsgesellschaft für die oben genannten Ausschlüsse und Diskriminierungsmechanismen sensibilisiert werden. Zu all dem gehört das deutliche Signal: Plurale Lebensweisen sind normal und begrüßenswert, sie dürfen nicht mit Ausgrenzung und Benachteiligung bestraft werden.

Der Blick erweitert sich: nicht die Betroffenen von Gewalt und Diskriminierung haben oder sind das „Problem“, weil sie „anders“ sind. Das Problem sind auch nicht ausschließlich organisierte Nazis oder offen völkische Rassistinnen oder Homophobe. Das Problem sind ebenso die individuellen und strukturellen Widerstände der Mehrheitsgesellschaft, die nicht sieht oder nicht sehen will, dass auch sie sich verändern muss, damit alle Menschen die Möglichkeit zu gleicher Teilhabe bekommen.

Weltbilder als das benennen, was sie sind


Diskriminierte Gruppen müssen als eigenständige Menschen ernst genommen werden. Die Erkenntnis, dass Rassismus, Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit ein gesamtgesellschaftliches Problem sind, muss sich in der Förderpraxis und Strategieentwicklung niederschlagen. Die Zusammenarbeit von Initiativen und Behörden darf nicht auf Kosten der Unabhängigkeit und kritischen Rolle der Initiativen geschehen. Einerseits verstellt der Begriff, die dahinter stehenden konkreten Einstellungen und Handlungen: das Naziproblem, aber auch Rassismus, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsideologien. Andererseits verschließt er den Blick vor den strukturellen und alltäglichen Diskriminierungserfahrungen vieler Menschen. Er kann unproblematisch durch die Benennung der konkreten Ungleichheitsverhältnisse und Diskriminierungspraktiken ersetzt werden: Rassismus, Heterosexismus, Sozialdarwinismus, Autoritätsgläubigkeit zum Beispiel. Im Fall nationalsozialistischer Ideologien und Politikprogramme sollten die Protagonistinnen und Protagonisten sowie ihre Weltbilder als das bezeichnet werden, was sie sind: als (Neo-)Nazis, bzw. als nazistisch.

Von Doris Liebscher
Foto: Alltagsrassismus heißt, dass fremd ist, wer nicht weiß ist. ADB Sachsen

Der Artikel ist eine gekürzte Fassung aus der Broschüre "Gibt es Extremismus?"
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Doris Liebscher ist Volljuristin und Magistra des Europarechts. Seit 2005 ist sie im unabhängigen Antidiskriminierungsbüro Sachsen in Leipzig als Beraterin und Dozentin für Antidiskriminierungsrecht- und -kultur tätig. Zurzeit promoviert sie an der HU Berlin zum „Rasse“-Begriff im deutschen Recht.

Neuerscheinung: Antidiskriminierungspädagogik. Konzepte und Methoden für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen.
 

Der Extremismus-Begriff aus politischer Perspektive