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„Asozial“ – über ein Stigma


Wer sich mit der Geschichte sowie der Entwicklung von sozialer Ausgrenzung und seinen Kontinuitäten und Brüchen bis in die heutige Zeit auseinandersetzt, wird schnell auf das Stigma „asozial“ stoßen. Dabei ist festzustellen: Die Verfolgung von sogenannten Asozialen ist zwar seit langem bekannt, die Forschung und Aufarbeitung dazu wurde aber erst in jüngster Vergangenheit begonnen. Heute noch wird das Stigma benutzt, um die Schuld an sozialen Missständen den Betroffenen selbst in die Schuhe zu schieben.


Erstmals findet sich das Stigma „asozial“ in der Literatur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist somit wesentlich jünger als die diskriminierenden, kriminalisierenden Zuschreibungen, die kennzeichnend für die soziale Ausgrenzung in vorangegangenen Gesellschaftsformationen waren. Frühere Zuschreibungen lösten sich jedoch nicht auf, sondern konnten unter dem Stigma „asozial“ beliebig und willkürlich zusammengefasst, erweitert, verstärkt und in wesentlich größerem Rahmen legalisiert werden. Auch die Akzeptanz in der Bevölkerung zur Ausgrenzung und Verfolgung der so stigmatisierten Menschen ließ sich mit diesem Begriff wesentlich leichter erzielen. Im Gegenzug erleichterte gerade das Fehlen einer abschließenden Definition von „Asozialität“, dass immer wieder willkürliche Zuschreibungen auf bestimmte Personen und Personengruppen stattfinden konnten. Nur die negative Bedeutung blieb, trotz verschiedener gesellschaftlicher Zusammenhänge, immer erhalten und äußerte sich nicht zuletzt oft in der Gleichsetzung mit bzw. Darstellung als „kriminelles Element“.

Arbeitsethos

Das von der Kirche und hierbei insbesondere von den Calvinistinnen und Calvinisten propagierte und historisch überwiegend mit Zwang durchgesetzte Arbeitsethos nach dem biblischen Motto „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, erhielt mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise eine systemische Entsprechung. Leider wurde dieser Ethos auch von der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung weitgehend kritiklos übernommen. Nun waren nicht nur die Insassen von Zucht- und Arbeitshäuser der Sozialdisziplinierung unterworfen, sondern faktisch die gesamte Bevölkerung, sofern deren Lebensweise und Arbeitsrhythmus nicht den Anforderungen der kapitalistischen Produktion entsprachen.


Pseudowissenschaftliche Legitimation von Verfolgung

Zur Legitimation einer verstärkten Ordnungs-, Disziplinierungs-, Repressions- und Ausgrenzungspolitik in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft kamen zunehmend auch Argumente hinzu, die „Asozialität“ im Sinne von „Schmarotzertum“ und „Faulheit“ medizinisch-psychiatrisch „erklären“ sollten. Den Höhepunkt pseudowissenschaftlicher Erklärungsmuster bildeten Rassenhygiene und Eugenik, die den medizinisch-psychiatrischen Zuschreibungen noch die rassistisch-biologistischen hinzufügten. Nach der bereits vollzogenen Einteilung der Menschen in „nützlich“ oder „unnütz“, „verwertbar“ oder „nicht verwertbar“ wurde nun Leben auch als „wertes und unwertes“ eingestuft. Unter den Nazis bedeutete dies Verfolgung, Sterilisation, Gewahrsamnahme bis hin zur Zwangsarbeit und Ermordung der als „Asoziale“ eingestuften Menschen in Konzentrationslagern. Zum „Wohle eines gesunden Volkskörpers“ und öffentlich vor den Augen der Gesellschaft. Ausreichend war, dass Menschen in der Nazi-Ideologie als „Fremdkörper“ definiert wurden. Für Sinti und Roma etwa bedeutete dies, dass sie als „fremdrassige Asoziale“ sowohl aus rassistisch-biologistischen als auch aus ordnungspolitischen Motiven heraus verfolgt und ermordet wurden.

Weiterverwendung des Stigmas „asozial“ nach 1945

Die Nazi-Verbrechen an den so genannten „Asozialen“ sind nach 1945 bis heute kaum aufgearbeitet worden. Eine Anerkennung als Unrecht des Nazi-Regimes fehlt bis heute. Nur die wenigsten Opfer haben eine Rehabilitierung und/oder Entschädigung erfahren. Wie bei kaum einem anderen Verbrechen der Nazis findet sich in Bezug auf die Verfolgung all jener, die als „asozial“ stigmatisiert wurden, so wenig Bereitschaft aufzuklären und sich mit den leider noch bis heute vorhandenen zahlreichen Kontinuitäten zu beschäftigen. Nicht zuletzt, weil diese nur über eine tiefere Gesellschaftskritik zu leisten wäre. Es erscheint heute, verfolgt man die aktuellen Entwicklungen sozialer Ausgrenzung, wichtiger denn je, an die Schicksale der so genannten Asozialen zu erinnern und derer zu gedenken, die Opfer der mörderischen Nazi-Diktatur geworden sind. Nicht nur heute muss es unsere Verpflichtung diesen Opfern gegenüber sein, keinen Zweifel daran zu lassen, das Nichts aber auch gar nichts rechtfertigt, was die Nazis diesen Menschen angetan haben. Die Anerkennung als Unrecht der Nazi-Diktatur sowie eine Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer käme zwar spät, würde aber ein erstes wichtiges Zeichen setzen.

Wichtig auch deshalb, weil der bisher unkritische Umgang mit dem Stigma „Asozialität“ nicht zuletzt wegen der Fortsetzung der Logik befördert wird, dass sich der Mensch als soziales Wesen über Erwerbstätigkeit definiert und definieren soll. Kein Wunder, wird doch diese Logik zur Rechtfertigung der Entmündigung der aus dem Arbeitsmarkt gefallenen bzw. diesem sich entziehenden Menschen bis heute verfolgt. Früher wie heute wird mit dem Ausgrenzungskriterium Nichterwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit „Schmarotzertum“ und „Faulheit“ verbunden. Dankbar wird von der herrschenden Klasse das Stigma „Asozialität“ aufgegriffen, um gesellschaftliche Probleme zu individualisieren, also dem Einzelnen die Schuld für seine soziale Lage in die Schuhe zu schieben. Somit werden Repression und die Abgrenzung gegenüber anderen Lebensweisen und -auffassungen legitimiert.

In der Krise

Besonders in Krisenzeiten verschärft sich der Ton, der in und durch Politik, Medien und Gesellschaft die propagandistische Begleitmusik für Ausgrenzung und Rassismus ist. Kein Wunder also, dass wir im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise die manifeste Neubelebung stigmatisierender Zuschreibungen insbesondere gegen die so genannten Verliererinnen und Verlierer der Konkurrenz- bzw. beschönigend Leistungsgesellschaft erleben. Dass es das Stigma „asozial“ auf allen Seiten zu einer breiteren Akzeptanz geschafft hat, zeigt der inflationäre Umgang mit dem Begriff. So ist auch heute die Beschimpfung als „asozial“ in aller Munde, wird das Stigma benutzt, wenn im BILD-Niveau über die sozialen Opfer der Konkurrenzgesellschaft oder deren vermeintliche Verursacher_innen hergezogen wird. Mal gegen Hartz IV-Empfänger_innen, mal gegen Migrant_innen, mal gegen Menschen mit Behinderungen, mal gegen ältere Menschen, mal gegen Menschen anderer sexueller Orientierung, mal gegen Arbeitsunfähige und mal gegen Menschen richtet, die der Verwertungslogik des Kapitalismus und dem Leistungsdruck dieser Gesellschaft nicht folgen können oder wollen. Andererseits aber auch mal gegen Manager_innen, Banker_innen und Börsenspekulant_innen.

Was ist sozial?


Abgesehen davon, dass ein unreflektierter Umgang mit dem Begriff für eine Geschichtsvergessenheit spricht, offenbart dies auch eine sehr fragwürdige Herangehensweise. Denn was sozial ist, wurde zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich definiert und ist nicht zuletzt eine Frage gesellschaftlicher Verhältnisse (u.a. von Macht und Herrschaft, Besitz- sowie Verteilungsverhältnissen und deren Legitimierung). So sind bestimmte Normvorstellungen in einer sozialen Gruppe als normal oder der Norm entsprechend angesehen, in einer anderen Gruppe aber gerade nicht. In letzterer werden sie entsprechend auch nicht notwendigerweise als bewusste Verletzung der Normvorstellung anderer wahrgenommen. Normen und das darauf bezogene Handeln sind also relativ. Eine humanistische Gesellschaft und Demokratie beweist sich gerade auch im Umgang mit jenen, die von der postulierten Norm abweichen. In der heutigen Gesellschaft werden Menschen förmlich gezwungen, von der „Norm“ bspw. der Erwerbstätigkeit abzuweichen. Diese soziale Ausgrenzung braucht Stigmatisierung. Statt sich aber an der Stigmatisierung zu beteiligen, sollte lieber die soziale Ausgrenzung und deren gesellschaftliche Wurzeln bekämpft werden. Die Weiterverwendung des Stigmas „asozial“, egal gegen wen und in welcher Form, ist dafür jedoch ungeeignet!

Von Dirk Stegemann

Bild: Ausschnitt aus der Schautafel „Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern"; Lehrmaterial für SS-Wachmannschaften. Rechts das Stigma "asozial".


Auch auf unserer Liste der Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt seit 1990 finden sich einige als "asozial" stigmatisierte Opfer:

149 Todesopfer seit 1990

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kennzeichen für kz-häftlinge