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EM-Boykott: Angemessene Reaktion oder alte Stereotype?

Während hochrangige Politikerinnen und Politiker noch 2008 zu den Olympischen Spielen nach China reisten, sprechen sie sich heute für einen Boykott der Europameisterschaft 2012 aus. Die dabei entlarvten Stereotype und Vorurteile erinnern an die gegenüber Polen.
 
Ein Gastbeitrag von Niels Gatzke

Deutschland im Jahre 2012: Es gibt einen neuen gesellschaftlichen Konsens, Sport ist keine unpolitische Angelegenheit mehr. Die Reaktion auf die Inhaftierung der ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko demonstriert ein Umdenken in der Gesellschaft im Umgang mit Menschenrechten. Politikerinnen und Politiker sowie Journalistinnen und Journalisten sind sich einig, dass die Politik die Fußball-Europameisterschaft der Herren 2012 boykottieren muss. Ist dies wirklich neu, oder gab es Vergleichbares: 1980 weigerten sich die USA und 63 weitere Staaten, an den Olympischen Sommerspielen in Moskau teilzunehmen. Grund war die sowjetische Invasion in Afghanistan ein Jahr zuvor. Aber ist die Ukraine wirklich vergleichbar mit der Sowjetunion oder hat sich der Maßstab hinsichtlich der Wahrnehmung der Menschenrechte verschoben?

Messen mit zweierlei Maß?

Noch 2008 sahen Politikerinnen und Politiker in den Menschenrechtsverletzungen in China keinen Grund nicht zu den Olympischen Spielen zu fahren. Aber vielleicht sind die Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine nur viel schlimmer als in China? Die internationale Nichtregierungsorganisation Freedom House stuft die Ukraine, in der es freie Tageszeitungen gibt, die kein Nischendasein fristen, und vergleichsweise offene Fernsehdiskussionen zur gleichen Thematik, als „teilweise frei“ ein. China dagegen als „nicht frei“. Wenn man sich genauer umsieht, stellt man fest, dass die deutsche Politik sehr gute Beziehungen zu „nicht freien“ Staaten unterhält, wie Russland oder Kasachstan. Im letzten ließ sich die deutsche Kanzlerin noch im Februar 2012 freundschaftlich mit dem dortigen Präsidenten Nasarbajew ablichten. Aber dies hatte wirtschaftliche Gründe, kommen wir zurück zum Sport. Während also es einen politischen Boykott der „teilweise freien“ Ukraine geben soll, verzichtet der Deutsche Fußballbund (DFB) Ende April gleichzeitig auf eine Bewerbung für die Europameisterschaft 2020. Die Begründung: dass andere Staaten auch mal das Recht hätten Endrunden auszutragen, und der einzige Bewerber für die die EM 2020 ist die nach Freedom House „teilweise freie“ Türkei. Eine öffentliche Reaktion ähnlich der Ukraine blieb aus, daher muss gefragt werden, worin liegt dieser Unterschied begründet?

Amnesty International gegen den Boykott

Was wird in Deutschland mit der Ukraine verbunden? Noch 2005 konnte Christian Semler in der taz feststellen: „Unser Verhältnis zu den Ukrainern muss noch ohne verfestigte Vor- und Urteile auskommen.“ Dazwischen lagen die so genannte „Visa-Affäre“, in der man erfahren konnte, dass Zwangsprostitution, Schwarzarbeit und organisierte Kriminalität scheinbar die hauptsächlichen ukrainischen Exportprodukte seien, und die Orange Revolution, in der die Ukrainer als Kämpfer für die Freiheit wahrgenommen wurden. Dies entsprach nicht den gängigen Vorstellungen von den Ukrainern, wenn man denn welche hatte, denen eher die Traurigkeit und Passivität der „slawischen Seele“ unterstellt wurden. Damit brachen die Ukrainer nun in der deutschen Wahrnehmung aus dem Russlandbild aus. Die Ukrainer zeigten Attribute, die eher den Polen zugeschrieben werden. Sie wurden als tapfer, mutig und heldenhaft angesehen, bewundert für ihre Freiheitsliebe, ihr Eintreten für die gerechte Sache, ihren Mut, sich auch Stärkeren entgegenzustellen. Auch die nächsten Jahre verliefen eher passend zu den von Deutschen eher Polen zugeschriebenen Eigenschaften. Die weitere innenpolitische Entwicklung zeigte die Unfähigkeit der ukrainischen politischen Eliten sich zu einigen, ständige Regierungskrisen und Wechsel der Regierungschefs. Bis unter dem in der Orangen Revolution unterlegenen Wiktor Janukowytsch, als nun gewähltem Präsidenten, die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko im September 2011 verurteilt wurde. Sofort waren es übrigens deutsche Politikerinnen und Politiker, die ein Aussetzen des unterschriftsreifen Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine forderten – entgegen dem Wunsch der Inhaftierten. Heute ist es Amnesty International, die sich gegen einen Boykott der Europameisterschaft aussprechen: Vielmehr sollten Politik und Sport in dem Land „die Gelegenheit nutzen, um auf die schweren Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und von der ukrainischen Regierung einen besseren Menschenrechtsschutz fordern“.

Stereotype und falsche Gleichsetzungen

Die Ereignisse in den letzten Tagen legen den Verdacht nahe, dass die Ukraine mit anderem Maß als andere Staaten gemessen wird. Vielmehr scheinen Stereotype und Vorurteile, die sonst eher gegenüber Polen auftreten, sich auf die Ukraine übertragen zu haben. Die tatsächlich existierenden realen demokratischen Defizite der ukrainischen politischen Kultur werden verallgemeinert, um die generelle „Unvereinbarkeit“ der Ukraine mit Europa zu entlarven. Die heftigen Reaktionen, insbesondere in Deutschland, zeigen Parallelen zu stereotypen Vorstellungen gegenüber Polen und den Polen auf, denen in politischen Krisensituationen regelmäßig die Fähigkeit, einen Staat mit den in Westeuropa zugeschriebenen Standards zu regieren, abgesprochen wird. Begünstigt wird diese Übertragung des deutschen Polenbildes durch ein bisher kaum vorhandenes Ukrainebild in der deutschen Öffentlichkeit und die politische Entwicklung in dem Land in den letzten Jahren. Die gemeinsame Austragung der Europameisterschaft des EU-Mitgliedes Polen mit der Ukraine verstärkt diese Gleichsetzung.

Polen leidet mit

Weiterhin kommt eine Rückübertragung dieser Bilder und Vorurteile hinzu: Die traditionell den Polen unterstellten Eigenschaften werden nun nicht nur auf den Schwachpunkt der Gastgeberländer der Europameisterschaft, der politischen Situation der Ukraine, übertragen, sondern wirken in der Wahrnehmung breiter Kreise zurück auf Polen. Die ersten Tage der medialen Berichterstattung scheinen dies zu bestätigen, gesprochen wurde von einem „EM-Boykott“ bis hinein in seriöse Nachrichten, in denen nicht differenziert wurde ob die Spiele in Polen oder der Ukraine stattfinden werden. Auch die Politik differenzierte nicht, so sagte beispielsweise Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, aus Protest gegen die Haft von Julija Tymoschenko ihre Teilnahme an dem Eröffnungsspiel der EM ab, welches am 8. Juni in Warschau stattfinden wird. Daher überrascht es nicht, dass auch in der Öffentlichkeit nicht zwischen den Gastgeberländern Ukraine und Polen unterschieden wird. Da nach einer Studie des Allensbach-Instituts zudem lediglich 21 Prozent der Deutschen meinen, Polen sei eine gefestigte Demokratie, verwundert die aktuelle Sicht in Deutschland auf das Problem nicht.

Der Autor ist Leiter des Projektes „perspektywa“ gegen Polenfeindlichkeit und polenbezogene Ressentiments. „perspektywa“ wird von der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e. V. in Kooperation mit der Amadeu Antonio Stiftung durchgeführt und durch das Bundesministerium des Innern im Rahmen des Bundesprogramms „Zusammenhalt durch Teilhabe“ sowie die Freudenberg Stiftung gefördert.
 

In den Stadien der Ukraine werden zur EM wohl einige Plätze leer bleiben. Foto: Marko Fieber via flickr, cc