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Euthanasie in Österreich – Absichtsvolles Vergessen

Nahe des psychiatrischen Krankenhauses in Hall in Tirol sollen dutzende Leichen exhumiert werden. Die mehr als 200 Opfer, so vermuten Historiker, fielen der dezentralen NS-Euthanasie zwischen 1942 und 1945 zum Opfer. Der Friedhof, auf dem die Toten lagen, wurde zwischenzeitlich als Parkplatz genutzt. Ein Beleg für den mitunter zweifelhaften Umgang Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit.


Von Marion Kraske

Das psychiatrische Krankenhaus in Hall ist wahrlich pittoresk gelegen. Das Areal ist weitläufig, im Hintergrund zeichnen sich die Kuppen der heimischen Bergwelt ab. Doch das alpenländische Idyll hat einen Riss bekommen, es wird in diesen Wochen konfrontiert mit dem Erbe seiner Vergangenheit. Dort, wo lange Zeit Besucher und Angestellte sorglos ihre fahrbaren Untersätze parkten, schaufelt eine kleine Gruppe von Experten vorsichtig Erdteilchen weg, werden Geröll und Wurzelwerk entfernt. Es ist die Suche nach den Überresten von 226 Menschen, die hier einst unter die Erde gebracht wurden. Es ist eine Suche nach der dunklen Geschichte Österreichs.

Vergessene Grabstätte


Als Anfang des Jahres an dieser Stelle die Erdarbeiten zu einem Bauprojekt an der Klinik begannen, stieß man auf die Reste einer vergessenen Grabstätte. Die Toten, die hier begraben wurden, so die Vermutung, fielen in der nahegelegenen Psychiatrie zwischen Ende 1942 und 1945 der NS-Tötungsmaschinerie zum Opfer.

Im August 1941 ließ Hitler die systematische Ermordung von psychiatrischen Patienten, die sogenannte Aktion T4 – benannt nach der Adresse der Euthanasiezentrale in der Berliner Tiergartenstraße – stoppen. Zuvor hatte es öffentliche Proteste gegen die Tötungen gegeben, nicht zuletzt durch den Münsteraner Kardinal Graf von Galen. Da sich die Geheimhaltung der Tötung sogenannten „unwerten Lebens“ nicht mehr aufrechterhalten ließ und weitere Proteste zu befürchten waren, beendete Hitler die T4-Aktion. Das Morden und Töten in den einzelnen Anstalten ging jedoch ungebremst weiter. Auch dieser Phase der Euthanasie, der sogenannten „dezentralen (oder auch wilden) Euthanasie“, so der Wiener Historiker Herwig Czech, fielen zehntausende Menschen zum Opfer – mutmaßlich auch Patienten aus Hall. Trotz der Vielzahl der Opfer gehört diese Phase der NS-Euthanasie laut Czech in Österreich zu den am wenigsten erforschten Bereichen der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik.

Töten für den „gesunden Volkskörper“

Im Zuge verschiedener Tötungsprogramme ließ das NS-Regime sogenannte „Minderwertige“ und „Ballastexistenzen“ umbringen, um – so die „Nazi-Diktion“ – einen „gesunden Volkskörper“ zu schaffen. Mit den Tötungen wurde unmittelbar nach Kriegsbeginn begonnen. Hitlers mittels Ermächtigung gestartete Aktion T4 wurde akribisch dokumentiert, Krankenakten und Archivmaterial belegen: Insgesamt starben dabei 70.000 Menschen, rund 13.500 davon in Österreich. Dagegen ist die Beweislage bei der dezentralen Euthanasie ungleich schwieriger. Vernachlässigung, Kälte, Unterernährung, körperlicher Verfall, dazu Infektionskrankheiten – die konkreten Auswirkungen dieser unmenschlichen Maßnahmen lassen sich häufig nur mit statistischen Methoden als so genannte Übersterblichkeit ermitteln. Genauen Zahlen, wie viele Menschen bei der dezentralen Euthanasie ums Leben kamen, gibt es denn bisher auch nicht. Immerhin können zumindest für Deutschland Schätzungen hinzugezogen werden, demnach kamen hier mehr als 107.000 Menschen ums Leben. Zahlen für Österreich existieren dagegen nicht.

Mythos Opferthese

Sicherlich, sagt Historiker Czech, gab es immer wieder auch ein „absichtsvolles Vergessen“. Denn anders als Deutschland tat sich Österreich jahrzehntelang schwer mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Während Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg seine Schuld, auch unter dem Druck der Alliierten, einräumte und aufarbeitete, pflegte das Alpenland den Mythos der Opferthese. Man verstand sich ausschließlich als „erstes Opfer“ Hitlers im Kontext des „Anschlusses“ – eine Version der Geschichtsschreibung, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen gehegt und gepflegt wurde – lange Zeit.

In der am 1. November 1943 von den Alliierten erlassenen Moskauer Erklärung hieß es: Österreich sei „das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte“. Diese Zeilen nutzte man im Alpenland, um die Täterseite auszublenden. Vieles, was nicht zum Opfermythos passte, wurde zugedeckt und zugeschüttet – wie der Friedhof in Hall. Erst 1991 wagte es ein österreichischer Kanzler, der Sozialdemokrat Franz Vranitzky, die Opferthese in aller Öffentlichkeit und mit Nachdruck in Frage zu stellen.

Vergessenheit und Verdrängung

In Hall etwa existierte immerhin bis in die 60er Jahre ein regulärer Friedhof mit gekennzeichneten Gräbern, erzählt Ausgrabungsleiter Alexander Zelesco vom örtlichen Stadtarchiv. Prozessionen seien zu dem Friedhof gezogen, er war demzufolge im öffentlichen Bewusstsein verankert. Dann aber wurde die Ruhestätte aufgegeben, allmählich geriet sie in Vergessenheit. Nichts erinnerte mehr an die Toten und ihr schicksalhaftes Ende. Nichts an die eigene Schuld. Im Gegenteil: Das Areal wurde zweckentfremdet, zu einem Teil asphaltiert und fortan als Parkplatz genutzt.

Ein tragisches Mosaiksteinchen der Geschichte? Oder doch eher die nicht ganz zufällige Verdrängung einer heiklen historischen Episode? Gerade die dezentrale Euthanasie war es ja, die belegte, dass es keinerlei Order bedurfte, um aus Ärzten und Pflegepersonal Mörder zu machen. Die Täter vor Ort arbeiteten selbständig daran, dass die Tötungsmaschinerie der Nazis auf Hochtouren lief.

Im öffentlichen Bewusstsein vieler Österreicher ist das dunkle Kapitel der Verstrickungen in die NS-Verbrechen bis heute nicht gänzlich verankert. Umfragen, die das Wiener Ludwig-Boltzmann-Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit Anfang 2008 durchführte, kamen zu bemerkenswerten Ergebnissen: Rund 55 Prozent der Befragten gaben an, dass auch Österreicher „mitverantwortlich“ für das Schicksal der Juden waren. Rund 16 Prozent waren in ihrer Aussage unbestimmt, zwölf Prozent lehnten die Aussage ab, weitere elf Prozent machten keine Angaben.

Hall ist eines der Beispiele für die nach wie vor weißen Flecken in der österreichischen Geschichtsaufarbeitung. Um die Schicksale der Toten endgültig zu klären, wird ein Expertenteam die Grabfunde in den kommenden Monaten untersuchen und die historischen Hintergründe beleuchten. Zu diesem Zweck sollen die exhumierten Leichen in Speziallabors untersucht werden, in Absprache mit Kollegen aus Deutschland werden die Skelette auch an der Universität München begutachtet. Schon jetzt lassen sich aufgrund des Gräberverzeichnisses, das im Krankenhaus in Hall gefunden wurde, die einzelnen Schicksale recht genau rekonstruieren.

Der Friedhof selber, so der stellvertretende ärztliche Direktor des Krankenhauses, Christian Haring, wurde demnach vermutlich im Oktober 1942 angelegt. In den letzten Kriegsjahren habe es dann einen signifikanten Anstieg der Todesfälle gegeben. Allein im März 1945, so geht es aus den Unterlagen des Archivs hervor, starben mehr als 30 Patienten.

„Licht ins Halbdunkel"

Dass mit Hall ein weiterer Mosaikstein der dezentralen Euthanasie untersucht wird, ist aus Sicht von Historiker Czech ein Schritt in die richtige Richtung. Mit den Funden habe die Tiroler Landesregierung die historische Pflicht erhalten, „Licht ins Halbdunkel zu bringen“. Schließlich zeige sich am Beispiel von Hall mit seinem zubetonierten Friedhof einmal mehr ein „fragwürdiger Umgang mit Geschichte“, so der Wissenschaftler.

Auch die Wiener Buchautorin Waltraud Häupl begrüßt die nun in Gang gekommene Aufklärungsarbeit in Tirol. Ihre Schwester Annemarie war während der NS-Zeit zusammen mit rund 800 Minderjährigen in der Wiener Klinik „Am Spiegelgrund“ ermordet geworden. Seither schreibt Häupl Bücher über die Euthanasieverbrechen in der „Ostmark“. Mit ihren Werken will Häupl dem Vergessen und Verdrängen etwas entgegensetzen. Bei ihren Recherchen über das Schicksal ihrer Schwester und der anderen Kinder musste sie immer wieder erfahren, dass sich der Bogen des „Vertuschens und Vergrabens bis in die Gegenwart spannt“, wie die Autorin es nennt. „Der stumme Schrei der Opfer“, fordert Häupl, dürfe nicht erstickt werden. Deswegen müsse weitergeforscht werden. Nicht nur in Hall.

Foto: Abholbus der NS-Tötungsanstalt in Hartheim, via wikipedia, cc 
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Marion Kraske, studierte Politologin, ist freie Journalistin, Kolumnistin und Buchautorin. In ihrem 2009 erschienenen Buch „Ach Austria. Verrücktes Alpenland“ (Molden-Verlag) zeigt Kraske unter anderem die Problematik des geistigen Rechtsextremismus in Österreich auf.

 

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